Todeshunger
sich auf Lizzie, landet in ihren Armen und stößt sie mit einem hässlichen Klatschen gegen den Lastwagen. Einen Augenblick liegen sie einander in den Armen, und Lizzie drückt Ellis’ Gesicht an die Brust und will sie nicht loslassen. Ich betrachte die beiden im Halbdunkel. Sie könnten überall sein; sich auf dem Spielplatz der Schule voneinander
verabschieden, abends auf Ellis’ Bett sitzen, um einander zu wärmen, weil sie gerade aus der Kälte hereingekommen ist …
Dann verändert sich Lizzies Gesichtsausdruck. Sie kneift vor Schmerzen die Augen zusammen und reißt den Mund auf, um zu schreien, bringt jedoch keinen Laut heraus. Ellis stößt sie weg und sieht mich an; ihre untere Gesichtshälfte ist blutig. Sie spuckt einen Fetzen von Lizzies Fleisch aus, dreht sich um und greift erneut an. Ich krieche in eine Ecke und wende den Blick ab, während sie ihre Mutter in Stücke reißt.
38
B lutverschmiert und keuchend sitzt Ellis in der diagonal gegenüberliegenden Ecke des Lastwagens und beobachtet mich. Erinnert sie sich überhaupt, wer ich bin? Sie hat nicht versucht, mich zu töten. Würde sie mich für eine Bedrohung halten, hätte sie mich angegriffen.
»Wir müssen gehen, Ellis. Wir müssen hier weg. Es ist nicht sicher. Die Leute werden hier bald versuchen, alle und jeden zu töten. Verstehst du das?«
Keine Reaktion. Mir bleibt keine Zeit, auf eine Antwort zu warten. Ich hole ihren regenbogenfarbenen Strampelanzug aus dem Rucksack und rücke näher zu ihr.
»Zieh das an. Es hält dich warm.«
Ich will ihr das Kleidungsstück über den Kopf ziehen. Sie schlägt es mir aus den Händen. Ich hebe es auf und versuche es erneut, aber sie will nichts davon wissen, daher lasse ich es fallen. Sie faucht mich an und drückt sich noch fester in die Ecke. Armes Kind. Es ist schwer für mich, sie so zu sehen. In meiner Naivität bin ich davon ausgegangen, dass sie sich nicht nennenswert verändert hätte. Vielleicht wollte ich mir auch nur einreden, dass sie nicht wie die Kinder in der Schule sein würde. Jetzt, wo wir zusammen sind, wird es bestimmt bald besser mit ihr.
»Komm, wir gehen«, sage ich zu ihr und zwinge mich zu handeln. Ich nehme Messer und Taschenlampe in eine Hand und Ellis’ Handgelenk in die andere, dann ziehe ich
sie aus dem Lastwagen. Wir haben kaum den Boden berührt, als sie versucht, sich von mir loszureißen, aber ich lasse sie nicht gehen. Ich werfe die Taschenlampe weg, stecke das Messer in den Gürtel und beuge mich in den Laster zurück. Mit ausgestreckten Fingern greife ich nach dem langen Stück Wäscheleine, mit dem sie ihre Füße gefesselt hatten. Es ist nass von Lizzies Blut. Ellis zerrt weiter an mir und ist in ihrer Wut und Hartnäckigkeit kaum zu stoppen, aber ich behalte sie in meinem Klammergriff und ziehe sie näher zu mir. Ich binde ein Ende der Leine um meine Taille, das andere um ihre. Mein Gott, sie hat kaum noch ein Gramm Fleisch am Körper. Der Babyspeck an ihrem Bauch, an den ich mich so gut erinnere, ist verschwunden. Jetzt ist sie dünn und sehnig – nur Haut, Muskeln und Knochen.
»Damit wir nicht getrennt werden, klar?«
Immer noch keine Reaktion.
»Ellis, hörst du mich?«
Sie sieht mir ins Gesicht, antwortet aber nicht. Jetzt habe ich sie an mir festgebunden, lasse sie los, und sie stürmt sofort davon und reißt mich fast mit sich, als die Leine straff gespannt ist. Ich will sie zurückziehen, aber sie wehrt sich ununterbrochen gegen mich.
»Aufhören! Ellis, Süße, ich bin dein Daddy …«
Ich bemühe mich, den Halt nicht zu verlieren. Im kurzen Blitz einer Explosion draußen sehe ich, wie sie die Leine lösen will. Ich laufe zu ihr und nehme sie wieder in die Arme. Sie tritt um sich und versucht sich zu befreien.
»Beruhige dich«, flüstere ich mit dem Mund dicht an ihrem Ohr. »Bitte, Ellis, hör einfach auf …«
Meine Worte bleiben wirkungslos. Ich muss raus aus dieser Werkstatt. Vielleicht reagiert sie besser, wenn sie
mich deutlich sehen kann und erkennt, was um uns herum vor sich geht. Desorientiert laufe ich in die falsche Richtung und stehe vor den Trümmern der vorderen Fassade. Ich kehre um, passiere den offenen Lastwagen und Lizzies Leichnam und versuche, den Weg hinauszufinden. Jemand leuchtet mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Ich kann die Augen nicht abschirmen, daher kneife ich sie instinktiv zu.
»Lassen Sie sie los«, befiehlt eine Stimme, die ich kenne.
»Julia? Wie haben Sie …?«
»Ich bin Ihnen gefolgt. Wir
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