Todeshunger
schmalen Weg mitten durch einen wuchernden Rasen und nähere mich einer hohen Backsteinwand am Ende des Gartens. In der Ecke steht eine halb volle Regentonne. Mit ihrer Hilfe klettere ich auf die Mauer, dann trete ich sie um, damit mir niemand folgen kann. Auf der anderen Seite stehe ich in der Mitte
eines Blocks von sechs abgeschlossenen Garagen, jeweils drei auf einer Seite. Ich kann mich entweder dort verstecken und warten, bis sie mich finden, oder etwas riskieren. Abgesehen von der Möglichkeit, zurück über die Mauer zu klettern, gibt es nur einen Fluchtweg. Ich sprinte los, doch dann bleibe ich stehen, als der Dreckskerl mit dem Motorrad wie aus dem Nichts auftaucht und mir den Weg versperrt, indem er das Motorrad querstellt. Ich schaffe es, über seinen Hinterreifen zu springen und so zu entwischen, bin aber nur wenige Schritte weit gekommen, als ich ihn wieder Gas geben höre. Ich werfe einen Blick über die Schulter, und da kommt er mit erhobenem Schlagstock angebraust. Ich versuche, erneut die Richtung zu ändern, ihn aus dem Konzept zu bringen, doch mein Knöchel knickt um, ich stolpere und schaffe es kaum, aufrecht zu bleiben und weiterzugehen. Ich spüre plötzlich höllische Schmerzen, als der Schlagstock mich an den Beinen trifft, ich hinfalle und schmerzhaft auf dem Asphalt lande.
Jetzt kommen noch mehr, und ihre Unverändertengesichter sind ausnahmslos hinter Motorradhelmen, Gesichtsmasken, Visieren oder Schals verborgen. Ich will aufstehen, aber einer schlägt mich nieder und drückt meine Arme auf den Boden. Ein anderer hält meine Beine. Ich wehre mich, aber sie sind zu stark. Und es sind zu viele.
»Macht es einfach!«, brülle ich sie an. »Na los doch, tötet mich schon!«
Noch einer kommt und stellt sich über mich. Ich sehe sein Gesicht. Er betrachtet mich, zieht mit den Zähnen den Plastikschutz von einer Spritze und spuckt ihn aus. Ich winde mich, kann aber nicht verhindern, dass der Wichser mir die Nadel fest in die Brust stößt.
III
I nnerhalb weniger Wochen geriet der Mechanismus der kontinuierlichen Verteilung von Nahrungsmitteln und Medikamenten in dem Flüchtlingslager ins Stocken und kam schließlich ganz zum Erliegen. Rückblickend schien es ein zwar groß angelegtes, aber dennoch machbares Unternehmen zu sein, doch als die ursprünglich als vorübergehendes Provisorium geplante Mission in den vierten Monat ging, ohne dass ein Ende absehbar gewesen wäre, verschlechterte sich die Situation zusehends.
Die anfänglichen Grundregeln und hastig zusammengestoppelten offiziellen Vorgehensweisen waren recht einfach. Unter Kontrolle des Militärs sollten sämtliche Ressourcen über die City Arena koordiniert werden – eine enorme, höhlenartige Konzerthalle mit zehntausend Sitzen. Man hatte den riesigen, fußballfeldgroßen Betonboden geräumt und lagerte dort sämtliche Rationen, Vorräte, Medikamente und »gesammelten« Nahrungsmittel unter strenger Bewachung durch bewaffnete Soldaten. Lastwagen mit Proviant wurden von dort täglich an zehn festgelegte Vertriebszentren innerhalb des riesigen Lagers geliefert; ein Multiplex-Kino, das Rathaus, zwei Sportzentren und verschiedene andere öffentliche Gebäude entsprechender Größe. Von diesen Zentren aus wurden die Lebensmittel an die Stadtbevölkerung weitergeleitet, die gegen Vorlage ihres Ausweises Essensmarken bekamen.
Am Anfang des zweiten Monats herrschte bereits eine gefährliche Knappheit an Lebensmitteln, da die Behörden sowohl die Zahl der Flüchtlinge, die Rationen benötigten, wie auch die Dauer des erzwungenen Lageraufenthalts drastisch unterschätzt hatten. Im selben Maße hatten sie die Fähigkeit überschätzt, die Lebensmittelvorräte aufzufrischen. Als Folge regelmäßiger militärischer Exkursionen gelangten zwar nach wie vor offiziell requirierte (geplünderte) Lebensmittel in das Lager, aber nicht annähernd genug. Entscheidender jedoch war, dass keine Lebensmittel mehr produziert wurden. Niemand baute Getreide an und erntete es, keine Fabriken arbeiteten, alle Transport- und Vertriebssysteme waren unbrauchbar gemacht worden …
Mitte des zweiten Monats wurden die Vorräte so knapp, dass die tägliche Aufstockung der zehn Verteilungszentren auf jeden zweiten Tag gestreckt wurde. Anfang des dritten Monats stellte man auf wöchentliche Lieferungen um.
Ein Schwarzmarkt entwickelte sich auf der Straße, der eine Zeitlang blühte und gedieh. Im zweiten Monat übernahm darüber hinaus eine Miliz, die
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