Todeshunger
im Moment wäre es Ihr schlimmster Fehler, mich zu töten. Wie würde Ihnen das weiterhelfen? Wie ich schon sagte, Sie würden nur Feuer mit Feuer bekämpfen. Kommen Sie einen Augenblick zur Ruhe, und besinnen Sie sich, Danny. Denken Sie an alles, was passiert ist. Der Hass hat Ihnen alles genommen, hat Sie um Ihre Seele und Identität gebracht. Sie können nicht mehr als menschliches Wesen funktionieren.«
»Stimmt nicht. Ich weiß genau …«
»Seinetwegen haben Sie alles verloren … Ihre Familie, Ihr Zuhause, Ihre Tochter. Ohne den Hass wären Sie vielleicht noch bei ihr. Herrgott, Mann, er hat Sie sogar Ihre
Würde und Freiheit gekostet. In den vergangenen zwei Tagen haben Sie auf einem Bett in Ihrer eigenen Pisse gelegen und waren gefesselt und eingesperrt wie ein Tier. Und exakt in diesem Augenblick setzen Sie sogar Ihre Zukunft aufs Spiel. Wenn ich wollte, könnte ich einfach ohne einen Blick zurück hier rausspazieren. Ich könnte Sie hier zurücklassen, damit Sie verhungern und sterben. Sie wissen nicht, wo Sie sich befinden, wie viele andere noch hier sind, was auf der anderen Seite der Tür dieses Raumes liegt … Sehen Sie es ein, Danny, im Augenblick bin ich Ihre einzige Hoffnung.«
Er verstummt und wartet darauf, dass ich reagiere, doch das kann ich nicht. Ich kann nur sein kaum noch menschliches Gesicht betrachten. Hat er recht? Er schlurft näher, bis er gerade in meiner Reichweite ist. Verspottet er mich? Stellt er mich auf die Probe?
»Die Leute sagen mir, dass ich meine Zeit mit Ihresgleichen verschwende. Sie sagen mir, dass ihr nicht besser als Tiere seid, dass Hundeblut in euren Adern fließt und man euch zusammentreiben und erschießen sollte.«
»Mir ist egal, was die …«
»Wissen Sie, was ich denen antworte? Ich sage ihnen, dass sie sich irren. Aber Sie sind der Einzige, der wirklich entscheiden kann, wer recht hat. Wäre die Lage umgekehrt und ich Ihr Gefangener, Danny, was würden Sie jetzt tun?«
»Ich …«
»Dumme Frage. Wir wären nie so weit gekommen. Sie hätten mich längst getötet. Sie könnten es jetzt noch, wenn Sie wollten, aber ich glaube fest daran, dass Sie besser sind.«
Er kommt noch näher. Ich bewege die Hand und kratze die Stelle an meinem rechten Knie, die gerade wieder zu
jucken anfängt, und er zuckt zusammen. Er zittert. Gehört das zu seinem Spiel, oder ist die Angst echt?
»Arbeiten Sie mit mir zusammen, und beweisen Sie allen anderen, dass sie sich irren. Zeigen Sie mir, dass Sie Ihre Emotionen beherrschen können, und ich werde Ihnen helfen. Ich habe Zugriff auf Unterlagen. Ich könnte herausfinden, was mit Ihrer Tochter geschehen ist …«
Das hört sich nach einer Lüge an. Es riecht nach Verzweiflung, und das weiß er auch.
»Blödsinn.«
Er zuckt die Achseln. »Kann sein, aber was habe ich zu gewinnen? Besser gesagt, was haben Sie zu verlieren?«
Mir ist schwindlig. Das alles ist zu viel für mich. Ich kann nicht klar denken. Mein Herz sagt töten, doch etwas anderes sagt mir, dass ich warten soll, weil er recht hat, das Kämpfen hat mich nicht weitergebracht. Und wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass er mir helfen kann, sollte ich sie nicht ergreifen? Er lehnt sich zurück und hebt die Schlüssel auf. Einen nimmt er vom Ring und wirft ihn mir zu.
»Für die Ketten an Ihren Handgelenken«, sagt er. »Nehmen Sie sie ab, und ziehen Sie sich vollends an.«
Ich gehorche, strecke die Arme, spanne die Muskeln. Nach den endlosen Stunden in Ketten tut die Bewegungsfreiheit gut. Ich gehe durch das Zimmer zu dem Kleidungsstapel. Joseph bleibt die ganze Zeit auf dem Boden sitzen. Er ist in Reichweite der Kette um meine Taille. Wir wissen beide, ich könnte ihn töten, wenn ich wollte. Er hat Todesangst, das sehe ich in seinen Augen, und es gibt mir die Kraft, mich zu beherrschen. Ich bezwinge den Hass.
Vielleicht gebe ich ihm eine Chance. Wenn er mich verarscht, werde ich ihn töten.
V
D ie wolkenbruchartigen Regenfälle kamen unerwartet, da Wettervorhersagen ein vergessener Luxus geworden waren. Die Sturzfluten richteten beispiellose Schäden im Flüchtlingslager des Stadtzentrums mit seiner auf engstem Raum zusammengepferchten Bevölkerung an. Diejenigen, die auf der Straße lebten, traf es am schlimmsten, da in nicht einmal zwei Stunden so viel Regen fiel wie sonst in zwei Monaten und Dutzende Leute mitsamt ihren wenigen Habseligkeiten buchstäblich fortgespült wurden. Da zahlreiche Rinnsteine blockiert und verstopft waren, konnte das
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