Todeshunger
einen breiten Flur durch eine zweite, sehr viel kleinere Bar, dann eine lange Treppe empor. Vier Türen befinden sich auf einem quadratischen Absatz. Drei stehen offen, und ich sehe in jedem Zimmer mindestens ein oder zwei Leute. Der Mann öffnet die letzte Tür. Ich folge ihm in einen großen Saal, fast so groß wie der Barbereich, den wir einen Stock tiefer durchquert haben. Er ist sparsam möbliert, aber weitgehend unversehrt. An einer Wand sind zahlreiche Vorratskisten aus Holz aufgestapelt.
Ein Mann sitzt allein vor einem Laptop an einem Tisch, ein anderer schläft auf einer Matratze unter einem Fenster. Als ich den Raum betrete, erhebt sich augenblicklich eine Frau von einem fadenscheinigen Sofa. Sie steht im Schatten, kommt mir aber irgendwie bekannt vor. Ich bin sicher, ich habe sie schon einmal gesehen. Ist sie Chapman?
»Wer ist das?«, fragt sie. Ihre Stimme hat einen vage irischen Akzent, der jedoch durch ihren barschen Tonfall seinen Charme verliert.
»Er sagt, dass er dich sucht. Er sagt, Sahota hat ihn geschickt.«
Mein unwilliger Führer zieht sich zurück, da seine Aufgabe erledigt ist. Die Frau kommt auf mich zu und tritt ins Licht. Ich erkenne sie sofort, kann mich aber nicht erinnern, wo wir uns begegnet sind. War es in diesem Leben? Oder in meinem alten?
»Das Schlachthaus«, sagt sie.
»Was?«
»Das Schlachthaus, vor ein paar Tagen. Sie überlegen, wo Sie mich schon gesehen haben. Sie waren mit dem Jungen mit der zerschmetterten Hand und dem schlimmen Fuß dort, und ich …«
»Sie haben mir gesagt, dass ich meine Zeit nicht mit ihm verschwenden soll, da er sowieso bald tot sein würde«, unterbreche ich sie, weil mir plötzlich wieder einfällt, wer sie ist.
»Ganz recht. Und so war es auch. Ich bin Julia Chapman.«
»Sie sind ein richtiger Sonnenschein, was?«, sage ich sarkastisch, als ich ihr die Hand schüttle und mich erinnere, wie unverblümt und nüchtern sie bei unserer ersten Begegnung war. Sie zerquetscht mir mit ihrem schraubstockartigen
Griff fast die Hand. Als wollte sie mir mit aller Gewalt zeigen, wer das Sagen hat.
»Ich bin realistisch«, antwortet sie, »und konzentriert. Und so sollte es sein. Ich sage Ihnen, wenn dieser Krieg zu Ende ist, bin ich die Erste, die auf der Siegesfeier tanzt, und die Letzte, die sich wieder hinsetzt. Aber bis dahin interessiert mich nur eines: der Kampf.«
»Ziemlicher Zufall, Sie hier anzutreffen.«
»Finden Sie?«
»Ich dachte, Sie würden fleißig Rekruten für Ankins Armee anwerben.«
»Das tue ich.«
»Und warum sind Sie dann hier?«
»Um dafür zu sorgen, dass auch Sahota die richtigen Leute bekommt.«
»Was? Wollen Sie damit sagen, dass Sie mir in die Stadt gefolgt sind?«
»Ich will gar nichts sagen, aber etwas in der Art, ja. Es waren noch ein paar Leute im Spiel, wir haben nicht nur Sie beobachtet.«
»Ich glaube Ihnen nicht.«
»Glauben Sie, was Sie wollen, Freundchen, mir ist das scheißegal. Wichtig ist nur, wir sind, wo wir sind, und das ist hier. Entscheidend ist jetzt, was wir als Nächstes machen.«
»Wenn Sie das sagen.«
Ich frage mich, ob sie immer so viel Blödsinn daherredet oder ob sie mich beeindrucken und ihre Autorität unterstreichen möchte? Sie sieht mir direkt in die Augen, und ich habe einen Moment den Eindruck, als wollte sie mir eine runterhauen. Sie beißt sich auf die Lippe und wendet sich ab.
»Kommen Sie. Ich will Ihnen etwas zeigen.«
Ich folge ihr aus dem Zimmer und über den Treppenabsatz. Wir gehen durch einen anderen Teil des Gebäudes, wo zwei weitere Kämpfer sich im Schatten ausruhen. Sie blicken auf, als ich an ihnen vorbeigehe, bewegen sich aber nicht. In der anderen Ecke des Raums sind deutlich Kampfspuren zu erkennen, besonders eine weitere Treppe, die offenbar nirgendwo mehr hinführt, sondern einfach in einem schwarzen Loch in der Decke verschwindet. Julia führt mich die baufälligen Stufen empor auf ein von Trümmern übersätes Dach, das einmal das oberste Geschoss oder der Dachboden des Clubs gewesen ist. Jetzt sind nur noch einige abgebrochene Dachbalken und Latten und halb eingestürzte Mauern übrig. Große Pfützen bedecken weite Teile des Bodens. Zwei Klappstühle stehen vergessen unter einer straff gespannten Segeltuchplane. Der Ausblick über die Ruinen der Stadt auf der einen sowie die Sperrzone auf den drei anderen Seiten ist atemberaubend. Anscheinend haben sie dieses Dach als provisorischen Aussichtspunkt benutzt.
Julia geleitet mich zum Rand des Dachs auf
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