Todeshunger
ist.
»Wir richten also genügend Schaden an, dass sie durchdrehen, und verschwinden dann wieder?«
»Wir richten genügend Schaden an, dass sie durchdrehen, und dann richten wir noch mehr Schaden an«, antwortet sie rasch, und es hört sich an, als würde meine offenkundig mangelnde Begeisterung sie erzürnen. »Es kommt nur darauf an, was wir in der Stadt erreichen. Man denkt nicht an die Zukunft, wie man davonkommt, dem Kampf den Rücken kehrt … nichts dergleichen. Wenn man am Ende der Aktion noch am Leben ist, gut gemacht. Wenn nicht, Pech gehabt. Diese Sache ist viel größer als jeder Einzelne von uns.«
Damit geht Julia weg und lässt mich allein auf dem Dach stehen. Ich sehe ihr nach und fühle mich, als hätte ich mich gerade einem Kamikaze-Unternehmen angeschlossen.
VII
M ark musste mehr Lebensmittel finden. Er wagte gar nicht, an die Folgen zu denken, sollte ihm das nicht gelingen. Unmögliche Entscheidungen müssten getroffen werden. Wie konnte es nur so weit kommen? Kate musste essen, ihr sollte seine Hauptsorge gelten, aber wem dann? Singh konnte sich zum Teufel scheren, aber was war mit Kates Eltern? Ihr Vater war Ende siebzig, ihre Mutter nicht viel jünger … Konnten sie es sich wirklich leisten, kostbare Vorräte für sie zu verschwenden? Himmel, was dachte er da? Sollte er sie verhungern lassen? Und er selbst musste essen, denn er konnte sich nicht vorstellen, wie Katie und ihr Kind in dieser Alptraumwelt überleben sollten. Nicht zu vergessen Lizzie. Wo war ihre Stellung in der Hackordnung? Und dieses Ding, das sie gefesselt bei sich im Bad hatte … Mark verfluchte den Tag, an dem er eingewilligt hatte, dass sie bei ihnen bleiben durfte.
Das Hotelzimmer direkt gegenüber von Zimmer 33 stand leer. Vor einer Weile hatte er Lärm dort gehört und durch das Guckloch gesehen, wie die Bewohner flohen. Er war nicht sicher, was genau sich abgespielt hatte; vermutlich war jemand unter dem Druck dieser untragbaren Situation durchgedreht und danach als Hasser gejagt worden. Die Soldaten waren nicht nachsehen gekommen (sie kamen gar nicht mehr), und es lagen immer noch mindestens zwei Tote in der Wohnung, doch das war ihm egal. Als er sah, wie die anderen von Panik gepackt die Treppen hinunterstapften, wusste er, ihm blieben
ein paar Minuten, um da rüberzugehen, alles Wertvolle zu holen und zu verschwinden, bevor andere Flüchtlinge den kostbaren Wohnraum für sich beanspruchten.
Mark kam sich vor wie ein Amateurforensiker, der versucht, den Hergang eines Mordes zu rekonstruieren, als er das kleine Zimmer betrat und über den ersten Leichnam stieg. Das Zimmer glich exakt demjenigen, in dem er und die anderen hausten. Eine Frau mit blassem, aufgedunsenem Gesicht, schwarzen Blutergüssen und Kratzern am Hals lag auf dem Boden. In der Ecke gegenüber saß zusammengesunken ein Mann, vermutlich ihr Ehemann oder Bruder, dem Blut aus Schnittwunden an Kehle und Handgelenken lief. Die Schnitte bluteten noch. Mark vermutete, dass er durchgedreht war. Es sah aus, als hätte er seine plötzlichen Aggressionen an der Frau ausgelassen und sich dann aus Reue selbst getötet. Wieder eine sinnlose Verschwendung von Menschenleben.
Doch für Rührseligkeit hatte er keine Zeit. Er suchte nach Lebensmitteln und sah dazu in die entsprechenden Verstecke, die er selbst in dem Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes benutzte. Er fand ein paar Krümel, nicht viel, aber besser, als mit leeren Händen zurückzukehren. Wenigstens konnte er …
Ein gellender Schrei zerriss die nervöse Stille. Mark wusste sofort, dass er aus Zimmer 33 kam. Er schnappte sich die Lebensmittel und stolperte über die ausgestreckten Beine der toten Frau, als er verzweifelt den Rückweg antrat. Er wusste bereits, was los war. Er hörte es. Sie hatte sich befreit.
Mark lief zur Tür und stieß sie genau in dem Moment auf, als Gurmit Singh sie von der anderen Seite aufriss. Mit einer einzigen Bewegung stürmte er ins Zimmer, riss Singh wieder hinein und trat die Tür hinter sich zu. Er durfte nicht riskieren,
dass der Inder entkam und allen erzählte, was sie hier drin versteckten – nicht, dass ihn irgendwer verstanden hätte.
Das Mädchen war auf dem Bett, nackt, abgesehen von einer schmutzigen grauen Weste, ihre Handgelenke noch mit Plastikschnur zusammengebunden, aber die Beine frei. Sie hatte die winzigen Hände um den Hals von Kates Vater gelegt und zog immer wieder seinen Kopf hoch und rammte ihn gegen das hölzerne Kopfteil.
Weitere Kostenlose Bücher