Todeshunger
der Seite, von der man das Flüchtlingslager im Zentrum sehen kann. Die Aussicht ist unglaublich, aber nicht nur wegen der Weite, sondern auch wegen der Dimensionen, die sie einem vermittelt. In jeder anderen Richtung sehe ich nur verlassene Gebäude und endlose Weiten menschenleeren Landes. Unseres Landes. Keine Spur von den Unveränderten.
»Verschlägt einem den Atem, was?«
Julia genießt den Ausblick und blickt mit spürbarem Hass zur Stadt, wo Hunderttausende Flüchtlinge im Elend leben. Ihre Nähe macht mich immer noch nervös.
»Wollten Sie mir das zeigen?«
»Ja, aber sehen Sie es sich nicht nur an, denken Sie darüber nach. Spüren Sie es. Überall im Land verstecken sich unsere Feinde zusammengepfercht in Zentren wie diesem. Tausende dicht zusammen auf einer Fläche von wenigen Quadratmeilen, wie Hühner auf der Stange, mit kaum ausreichend Platz zum Atmen. Und jetzt drehen Sie sich um, und sehen Sie sich an, was wir haben. Außerhalb der Stadtgrenzen kann man meilenweit gehen, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen.«
»Ich war da, wo ich früher gewohnt habe«, sage ich zu ihr. »Unglaublich, wie wenig Platz wir hatten …«
»Und wissen Sie, was es noch schlimmer macht?«, fährt sie fort, ohne mir zuzuhören. »Diese Idioten haben immer noch Vertrauen in die Leute, die angeblich ihre Anführer sein sollen, obwohl sie die nie sehen oder etwas von ihnen hören. Herrgott, die wissen nicht einmal, wer sie sind. Sie klammern sich verzweifelt an die Strukturen und Organisationen, die früher ihr elendes, nichtswürdiges Leben gelenkt haben, und vertrauen einem System, das schon lange, bevor wir auf der Bildfläche erschienen sind, am Sterben war.«
»Können Sie sich vorstellen, dass wir einst…?«, beginne ich, doch sie unterbricht mich erneut. Ihre übertriebene Begeisterung für das alles ist beängstigend.
»Wissen Sie, manche dieser Wichser glauben immer noch, dass sie beschützt werden und am Ende alles gut wird. Aber Sie und ich und alle anderen wissen es besser, richtig?«
»Die können nicht gewinnen«, antworte ich hastig und bleibe tapfer stehen, als mich eine plötzliche Windbö durchschüttelt. »Niemals.«
»Und genau darum dürfte unser Vorhaben so eine verheerende
Wirkung zeigen. Wir ziehen denen den Boden unter den Füßen weg.«
»Wie viele von uns sind hier?«
»Mit Ihnen zehn.«
»Ist das genug?«
»Wir sind nicht die einzige Gruppe. Es gibt noch andere. Ich weiß, Sahota will über hundert von uns vor Ort haben, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
»Und Sie glauben, dass es funktioniert?«
»Ohne Frage. Die Unveränderten können einander nicht trauen. Herrgott, die bringen es kaum noch fertig, die Person neben sich anzusehen. Ich meine, unter Fremden hat noch nie viel Vertrauen geherrscht, aber jetzt haben sie Angst, dass sich jeder andere jeden Moment gegen sie wenden könnte. Da drüben liegt echte Angst in der Luft, eine Nervosität und Unsicherheit, die nie wieder vergeht. Und je mehr sich in den Stadtzentren drängen und je länger es dauert, desto stärker wird die Angst.«
»Also gehen wir einfach da rein …«
»Und zünden die Lunte an. Die sind dicht am Abgrund. Ich gebe ihnen eine Woche, zehn Tage, wenn es hochkommt, und das ohne unser Zutun. Kein Essen, keine sanitären Einrichtungen, keine Medizin, die Überschwemmungen …«
»Da fragt man sich, wie die überhaupt so lange durchgehalten haben.«
»Sind Sie schon dort gewesen?«
»Ich komme gerade von da.«
»Dann wissen Sie, wie es ist?«
»Ich habe genug gesehen …«
»Das Wesentliche ist, die sind alle egoistisch, ob sie es zugeben wollen oder nicht. Jeder Einzelne wird tun, was er kann, um zu überleben, und scheiß auf alle anderen.
Selbsterhaltung bedeutet ihnen alles. Mehr ist ihnen nicht geblieben.«
»Und wann machen wir es? Wann gehen wir rein?«
»Das hängt ganz von Sahota ab. Er weiß, wann der richtige Zeitpunkt ist.«
»Und wie erfahren wir es?«
»Wir erfahren es, glauben Sie mir …«
»Also sitzen wir nur hier rum und warten?«
»Heute Nacht, vielleicht noch morgen. Dann werden wir den Befehl erhalten, uns in Position zu begeben. Danach kann es sich um Stunden handeln, vielleicht Tage. Wir gehen rein, mischen uns unter sie und schlagen zu. Ein kleines Opfer.«
Opfer? Das Wort lässt mich frösteln. Ich werde an der Seite dieser Menschen kämpfen, habe aber keineswegs vor, mich zu opfern. Nicht, solange die Möglichkeit besteht, dass Ellis noch da draußen
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