Todeshunger
dem nächsten Bild eine ähnliche, hingekritzelte Botschaft: »Marie Yates. Ermordete alle, die mir etwas bedeutet haben.« Das sind nicht die Gesichter der Opfer, wird mir klar, das sind die Gesichter der Killer. Mein Gott, ist mein Gesicht auch irgendwo darunter? Panisch lasse ich den Blick hastig über die Plakatwand schweifen und hoffe, dass ich mein Bild finde, bevor es ein anderer entdeckt. Hätte ich mir bloß nicht den Kopf rasiert, wie Sahota gesagt
hat. Ich hätte mich unter der verfilzten Mähne und dem Bart verstecken sollen. Und dann ändere ich meine Meinung auf bizarre Weise und hoffe, dass ich mein Foto hier finde, denn, sage ich mir, das wäre ein eindeutiger Beweis dafür, dass Lizzie hier gewesen ist.
Es spielt aber eigentlich gar keine Rolle.
Ich zwinge mich, der Wand den Rücken zu kehren, da ich weiß, dass ich keine Zeit mehr vergeuden darf. Irgendwo in dieser stinkenden, unhygienischen, übervölkerten Ruine von einer Stadt könnte sich die Frau verstecken, mit der ich mein Leben verbracht habe. Und wenn ich sie aufspüre, kann sie mir verraten, was aus meiner Tochter geworden ist.
29
I ch muss jetzt ganz in der Nähe sein. Ich dachte, ich kenne die Adresse, die Sahota mir genannt hat, aber hier sieht alles anders aus, als ich es in Erinnerung habe. Ich befinde mich an der äußersten Ecke des Flüchtlingslagers und nähere mich dem Rand der Sperrzone. Die Zahl der Unveränderten um mich herum hat rapide abgenommen, als ich mich wieder aus dem Stadtzentrum entfernt habe. Ich empfinde es als Erleichterung, dass ich mich nicht mehr in ihrer Mitte aufhalte und mich ständig anstrengen muss, nicht die Beherrschung zu verlieren. Hier stehen mehr Gebäude leer, als bewohnt sind. Ein oder zwei Unveränderte sind fast überall zu sehen, doch die geben sich größte Mühe, mich zu ignorieren, und verschwinden wieder in den Schatten, wenn ich näher komme.
Vor einem befestigten Haus mit Metallgittern und Stäben vor Fenstern und Türen bleibe ich stehen. Die Häuser rechts und links davon wurden zerstört, doch dieses sieht aus, als hätte es die Kampfhandlungen weitgehend unbeschadet überstanden. Neugierig gehe ich durch den dunklen, schmalen Durchgang zwischen dem Haus und den Trümmern des Nachbargebäudes. Der stark verweste Leichnam eines unveränderten Mannes liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem verwilderten Rasen; um die skelettartigen Gliedmaßen flattern noch die Fetzen einer Militäruniform. Er ist seit mehreren Wochen tot. Gehörte
ihm dieses Haus? Die Hintertür wurde aus den Angeln gerissen; ich trete ein. Die meisten Möbel wurden als Barrikaden verwendet, um die Zugänge zu versperren, nur ein Stuhl, ein kleiner Tisch und ein Bett stehen in einem der oberen Zimmer. Überreste von Kisten voller Vorräte liegen überall auf dem Boden herum, an die Wände hat jemand sinnlose, hohle Phrasen gekritzelt. »Tod den Hassern«, lautet eine. »Töte sie, bevor sie dich töten«, ist eine andere. Hier befindet sich nichts Wertvolles mehr. Ich verlasse das Haus, schüttle den Kopf und lache über den jämmerlichen Unveränderten, der sein Eigentum offenbar so lange beschützt und verteidigt hat. Völlige Zeitverschwendung. Er wäre besser beraten gewesen, hätte er sein Glück bei den anderen im Stadtzentrum versucht.
Vor mir versperrt das Wrack eines Lastwagens die Straße. Er liegt auf der Seite wie ein gestrandeter Wal, seine Ladung wurde über die gesamte Breite der Straße verstreut. Ich klettere über das Durcheinander und gehe einen Hang hinab zu einem ehemals belebten Einkaufsviertel. Meine Schritte hallen auf dem kleinen, düsteren, quadratischen Platz. Die Hälfte des verfügbaren Raums liegt unter einem flachen Tümpel schwarzen, verseuchten Wassers. An der tiefsten Stelle ragt der Stiefel eines toten Soldaten aus der Oberfläche heraus wie eine Haifischflosse.
Ringsum sehe ich verlassene und geplünderte Geschäfte – ein Buchmacher, wo ein Schild im Fenster die Wettquote für ein internationales Fußballspiel verkündet, das nie stattgefunden hat; ein Fish-and-Chips-Imbiss; ein Pizzastand, ein Frisör, ein Kramladen … Ich vergeude keine Zeit damit, einen davon zu untersuchen. Falls es je etwas Nützliches dort gab, ist es inzwischen garantiert geplündert oder zerstört worden.
Ich überquere den Platz diagonal und fühle mich zunehmend unbehaglich, wie auf dem Präsentierteller, als ich um den Tümpel dreckigen Regenwassers herumgehe, ein Hasser mitten im Gebiet der
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