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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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starrte nur mit leerem Blick über seine Schulter. »Wie viele Menschen sind heute gestorben? Dreißig?«
    »Sechsunddreißig.« Noch immer hing Littlemores Hand in der Luft.
    »Sechsunddreißig.« Youngers Stimme klang verächtlich. »Und die ganze Stadt ist wie gelähmt. Ich hasse die Toten.«
    Beide schwiegen. Younger rutschte an der Wand nach unten, bis er auf dem Boden saß.
    Littlemore kauerte sich neben ihn. »Ich bring Sie ins Krankenhaus.«
    »Sie können es ja probieren.«
    »Sie wissen doch, dass ich einen höheren Rang habe«, meinte der Detective.

    Younger zog die Augenbraue hoch.
    »Captain ist höher als Lieutenant.«
    »Ein Captain von der Polizei hat nicht mal einem Landser in der Ausbildung was zu sagen.«
    »Captain ist höher als Lieutenant«, beharrte Littlemore.
    Schweigen.
    Schließlich fragte der Detective: »Was soll das heißen, Sie hassen die Toten?«
    »Das hat Luc geschrieben — Colettes Bruder. Er spricht nicht. Ich habe gerade ... was eigentlich? Ich habe ein Buch gelesen, das er mir gegeben hatte. Dann hat er mir einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem stand: ›Ich hasse die Toten.‹« Younger schaute den Detective an. »Tut mir leid, das mit ... das mit ...«
    »Das mit dem Kinnhaken?«
    »Das mit den Vorwürfen gegen Sie. Es ist meine Schuld. Dass die beiden überhaupt in Amerika sind. Und dass Colette alleine losgezogen ist.«
    »Wir finden sie bestimmt«, sagte Littlemore.
    Younger seufzte, dann beschrieb er, was er vom Balkon aus beobachtet hatte. Littlemore fragte ihn nach der Automobilmarke. Younger wusste es nicht. Aus der großen Höhe hatte er nicht einmal die Farbe erkannt.
    »Wir finden sie bestimmt«, wiederholte der Detective.
    »Wie denn?«
    »Wir machen es so: Ich fahre ins Präsidium und gebe eine Fahndung raus. Spätestens morgen hält die ganze Truppe Ausschau nach diesem Kerl. Sie bleiben hier für den Fall, dass sie einen Erpresserbrief schicken. Inzwischen kann ich die alte Dame verhören, mit der Sie sich getroffen haben. Wie heißt sie?«

    »Mrs. William B. Meloney. West Twelfth Street Nummer einunddreißig.«
    »Vielleicht hat sie jemandem von den Proben erzählt, die Colette mitgebracht hat.«
    »Möglich ist es«, antwortete Younger.
    »Vielleicht haben die falschen Leute davon gehört.« In der Tür hielt Littlemore noch einmal inne. »Und tun Sie mir einen Gefallen. Machen Sie sich einen Verband um den Kopf.«

4
    F reiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wie diese Begriffe stammt auch das Wort Terrorist aus der französischen Revolution.
    Herrschaft des Terrors – so lautete die Bezeichnung für Robespierres erbarmungsloses Regime. Hunderttausende von Frauen und Männern wurden als »Staatsfeinde« gebrandmarkt, in den Kerker geworfen, deportiert, gefoltert. Vierzigtausend Menschen wurden hingerichtet. Robespierre verkündete Tugend und Terror als die beiden Grundprinzipien der Revolution, denn »Terror ist nichts anderes als strenge und unbeugsame Gerechtigkeit». Seine Anhänger erhielten den Namen Terroristes.
    Hundert Jahre später bezog ein anderer Revolutionär auf ganz ähnliche Weise Stellung: »Wir können den Terror nicht ablehnen«, schrieb Lenin, »denn er ist eine Kampfhandlung, die unter bestimmten Bedingungen durchaus notwendig sein kann.« Seine Anhänger wurden zu den Terroristen des neuen Jahrhunderts.
    Doch es gab einen Unterschied. In Frankreich war der Terror ein Instrument des Staates gewesen. Jetzt hingegen richtete sich der Terror gegen den Staat. Ursprünglich war ein Terrorist ein gebildeter französischer Despot, der hochmütig die Autorität von Gesetz und Regierung einforderte. Nun jedoch wurde der Terrorist zu einem ärmlichen, bärtigen, heimtückischen Attentäter – ein Slawe, ein Jude, ein
Italiener, der eine primitive Bombe legte oder eine Pistole unter der schäbigen Jacke verbarg. Es war ein Terrorist dieser Sorte, ein Serbe, der 1914 den Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich ermordete und damit den Großen Krieg auslöste.
    Sicherlich hatten die Deutschen den Krieg gewollt, doch es wäre nie dazu gekommen, wenn nicht in ganz Europa junge Männer danach gelechzt hätten. Bald darauf sollte ihre Bereitschaft zum Tod für das Vaterland mit einer Hölle belohnt werden, die sie nicht vorhergesehen hatten, einer Hölle, in der Schwefelgas den knöcheltief im Eiswasser kauernden Soldaten das Fleisch von den Knochen fraß. Doch im heißen Sommer des Jahres 1914 brannten die Europäer aller Klassen und Schichten

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