Todesinstinkt
Littlemores Blick hing an Youngers ramponierter Kleidung.
»Merkwürdig, wo ist sie? Sie müsste schon längst hier sein.« Sie waren noch einen halben Block von der Kathedrale entfernt, aber der Eingang, wo er Colette erwartete, war gut beleuchtet.
»Wie geht’s der Miss überhaupt?«, erkundigte sich Littlemore. »Wollte sie heute nicht irgendeinen Bonzen treffen? «
»Arnold Brighton.«
»Ach was. Wissen Sie, ich frage mich ...«
Noch ehe Littlemore den Satz vollenden konnte, bog Colette wie von Furien gehetzt um die Ecke der Kirche. An einer eisernen Laterne bremste sie, um nach Luft zu schnappen. Younger rief sie an.
»Stratham?« Colette klang verängstigt. Sie selbst befand sich zwar im Licht, aber die zwei Männer waren im Dunkeln und für sie unsichtbar. Sie setzte sich wieder in Bewegung und lief blindlings auf seine Stimme zu. »Gott sei Dank.«
In diesem Augenblick flogen krachend die Pforten der Trinity Church auf, und ein von innen erleuchteter Torbogen kam zum Vorschein. Unter dem Bogen stand Arnold
Brighton, sein Gesicht eine hellgrün schimmernde Scheibe, von der sich grellweiß die Augen abhoben. Samuels trat neben ihn.
»Da ist sie!« Brighton deutete auf die rennende Gestalt auf der Wall Street. »Erschießen Sie sie!«
Samuels feuerte. Colette verschwand unter einer Laterne und tauchte unter der nächsten wieder auf. Sie war nicht getroffen. Younger stürzte vor, um sie abzufangen und sich schützend vor sie zu werfen, als Samuels zwei weitere Schüsse abgab. Colette fiel schwer in seine Arme. Er riss sie von den Beinen und trug sie im Laufschritt ins schützende Dunkel einer Ladennische.
Littlemore war hinter einem Briefkasten in Deckung gegangen. Eilig durchwühlte er seine Taschen nach seiner Waffe, aber er hatte sie unten im Tiefgeschoss verloren. Auf allen vieren kroch er hinüber zu Younger, während Samuels’ Kugeln über ihn hinwegfegten. »Ist ihr was passiert?«
»Alles in Ordnung.« Colette war immer noch in Youngers Armen.
Samuels stellte das Feuer ein. Offenbar konnte er nichts erkennen.
»Sie da mit der Frau.« Die Stimme direkt hinter ihnen klang jungenhaft und um einen entschlossenen Ton bemüht. »Lassen Sie sie los.«
Younger drehte sich um. Der Sprecher war ein Soldat mit frischem Gesicht, der alarmiert von den Schüssen herbeigelaufen war. Nervös zielte er mit einem Gewehr auf Younger, der die scharfe Bajonettspitze fast auf der Brust spürte.
»Sind Sie da, Miss Rousseau?«, rief Brighton aus dem hell erleuchteten Torbogen. »Samuels, können Sie sie sehen?«
»Geben Sie das her.« Mit einer einzigen Bewegung ließ
Younger Colette los, und entriss dem Burschen das Gewehr. Blitzschnell kniete er sich hin, legte auf den Eingang der Trinity Church an und feuerte. Sein Schuss traf Samuels ins Schultergelenk und amputierte ihm fast den Arm.
»Sie haben ihn erwischt, Doc«, stellte Littlemore fest.
»Tatsächlich?« Younger zielte ein wenig weiter nach links.
Samuels sackte auf die Knie, das Blut strömte ihm aus der Schlüsselbeinschlagader.
»Was ist denn los mit Ihnen?« Mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Entrüstung musterte Brighton seinen Sekretär. »Das war doch nur ein Arm. Schießen Sie mit dem anderen.«
Younger feuerte erneut.
Brighton riss die Augen auf. Mitten auf seiner grünen Stirn erschien ein dunkelroter Kreis. »Oje.« Dann brach er zusammen.
Younger warf dem völlig perplexen Soldaten das Gewehr vor die Füße. »Wie schnell können Sie einen Krankenwagen holen?«, fragte er Littlemore. »Colette ist verletzt.«
Tatsächlich hatte sie schlimme Schnitte an den Beinen, und unter ihren zerfetzten Handschuhen zeigten sich Risswunden an Handflächen und Unterarmen.
»Bin gleich wieder da.« Littlemore hetzte davon. Innerhalb einer Minute kam ein Dutzend Soldaten angestürmt, wo Brighton und Samuels blutend im Eingang lagen, und Littlemore kehrte mit Minister Houstons Packard zurück. Younger forderte Colette zum Einsteigen auf.
»Das sind doch nur Kratzer«, protestierte sie.
»Wir fahren ins Krankenhaus.« Younger setzte sich neben sie auf die Rückbank.
Lächelnd sah sie ihn an. »In Ordnung, wenn du meinst.«
»Welches Krankenhaus, Doc?« Littlemore saß am Steuer.
»Washington Square. Warten Sie, wollten Sie heute Abend nicht einen Krieg verhindern? Haben Sie das schon erledigt? «
»Noch nicht«, antwortete Littlemore.
»Dann sehen Sie lieber zu, dass Sie nicht zu spät kommen. « Younger winkte Littlemore davon. »Jemand
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