Todesinstinkt
Professor beworben. Auch Ihre wissenschaftlichen Sachen betreiben Sie nicht mehr. Sie arbeiten nicht als Arzt. Was machen Sie überhaupt?«
»Das Schicksal herausfordern.«
»Eine richtige Arbeit ist das nicht.«
»Ich bin gerade erst zurückgekommen.«
»Ja, aber der Krieg ist schon seit zwei Jahren vorbei. Wo waren Sie denn?«
Mehrere Minuten vergingen. Sie tranken.
»Ich kenne niemanden, der bereitwillig den Tod in Kauf nimmt.«
»Was?«
»Heute Morgen haben Sie davon gesprochen, wie sinnlos es ist, dass Menschen so bereitwillig in den Tod ziehen.«
Younger war klar, dass Littlemore ihn aus der Reserve locken wollte, und tatsächlich hatte er nichts dagegen. »Sie hätten 1918 in Frankreich sein müssen.« Er stand auf und zündete sich mit einem von Littlemores langen Kaminstreichhölzern eine Zigarette an. »Die Briten, die Franzosen – sie hatten die Nase voll. Wollten nur noch überleben. Trauten ihren Augen nicht, als die Amerikaner kamen. Als ob wir unser ganzes Leben nur auf eine Gelegenheit zum Sterben gewartet hätten.«
»Ich hätte mich auch gemeldet, wenn Betty und die Kleinen nicht gewesen wären.«
»Und es ist nicht nur der Krieg«, fuhr Younger fort, als hätte er Littlemore gar nicht gehört. »Lass die Menschen eine Ahnung von Todesangst spüren, und sie stürzen sich
darauf. Warum zum Beispiel gibt es Achterbahnen auf Coney Island?«
»Nicht, damit die Leute sterben«, entgegnete Littlemore.
»Aber damit sie Todesangst empfinden können. Reiche Männer, die ein komfortables Leben führen, brechen sich beim Bergsteigen den Hals. Steuern zum Spaß Flugzeuge. Wissen Sie, was passiert, wenn in der Zeitung steht, dass in einer Achterbahn auf Coney Island jemand ums Leben gekommen ist? Am nächsten Tag kommen noch mehr Leute, um damit zu fahren.«
»Na ja, ich steig jedenfalls nicht in so ein Ding.« Littlemore schenkte ihnen beiden nach. »Warum legt jemand an einer Straßenecke eine Bombe? Das kapier ich nicht.«
»Weil Sie denken wie ein Polizist. Sie suchen nach einem Motiv.«
»Ja, natürlich.«
»Und wenn sie nur irgendwelche Leute umbringen wollten?«
»Warum sollten sie?«
»Wen ermordet man, wenn man ein ganzes Land hasst?« Younger hielt kurz inne. »Früher wäre ein König das Ziel gewesen. Wenn man den König von England angreift, greift man England selbst an. Aber ein Präsident? Ein Präsident ist doch nur ein Politiker, der in ein paar Jahren sowieso abtritt. In einer Demokratie reicht ein Attentat im Palast nicht mehr. Man muss die Menschen ermorden.«
Littlemore sann darüber nach. »Aber warum sollten sie uns hassen?«
»Die ganze Welt hasst uns.«
»Niemand hasst uns. Alle lieben Amerika.«
»Die Deutschen hassen uns, weil wir sie besiegt haben.
Die Engländer und Franzosen hassen uns, weil wir sie gerettet haben. Die Russen hassen uns, weil wir Kapitalisten sind. Und die übrige Welt hasst uns, weil wir Imperialisten sind.«
»Trotzdem ist das kein Motiv.« Littlemore wechselte das Thema. »Sie haben mich gar nicht gefragt, wozu ich Colette heute gebraucht habe.«
»Wozu?«
»Da ist so ein Bursche, Fischer heißt er. Vor zwei Tagen schickt er einem befreundeten Geschäftsmann eine Warnung, dass er nach dem Fünfzehnten die Wall Street nicht mehr betreten soll. Fischer arbeitet ein paar Blocks von der Wall Street entfernt in irgend so einem französischen Verein. Also bin ich hingegangen. Colette hab ich zum Übersetzen mitgenommen. Und jetzt halten Sie sich fest: Auch die Franzosen haben gestern von Fischer eine Warnung bekommen: Alle sollen einen Bogen um die Wall Street machen, weil dort was passieren wird.«
Younger pfiff. »Wer ist der Mann?«
»Interessanter wäre, wo er ist. Er hat sich nämlich vor ungefähr einem Monat von den Franzosen abgesetzt. Anscheinend ist er irgendwo in Kanada. Natürlich finden wir ihn — das habe ich auch der Presse gesagt. In wenigen Stunden werden Millionen Leute nach diesem Mann suchen. Aber wissen Sie, was komisch ist? Fischers französischer Chef hat den Brief zerrissen und weggeworfen. Wir mussten die Stücke aus einem Papierkorb klauben. Niemand hat ihn ernst genommen.« Littlemore steckte den Korken in die Whiskeyflasche, legte sie hin und ließ sie kreiseln. »Die wollen uns bestimmt abservieren.«
»Die Franzosen?«
»Die Bundespolizei. Sie versuchen, die Ermittlungen an sich zu reißen. Big Bill Flynn ist schon da. Auch Palmer hat sich angekündigt.«
A. Mitchell Palmer war der Justizminister der
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