Todesinstinkt
Vereinigten Staaten, William J. Flynn der Direktor des Federal Bureau of Investigation.
»Das ganze Bureau kommt nach New York.« Littlemore sah aus, als hätte er einen unangenehmen Geschmack im Mund. »Und Treasury-Agenten, Leute vom Geheimdienst — haufenweise. ›Die Untersuchung liegt in den Händen der Bundesregierung‹ — das hat Big Bill am Abend verlauten lassen. Flynn ... Na ja, ein Theodore Roosevelt ist der bestimmt nicht. Vor zwei Jahren war Big Bill noch Polizeichef hier. Niemand hat ihn gemocht. Wissen Sie, als ich klein war, wollte ich unbedingt zur Bundespolizei. Dad und ich haben darüber geredet, wie das wäre. Das machen wir heute noch. ›Ich steige in New York auf, dann gehe ich nach Washington und arbeite für Roosevelt.‹ Wahrscheinlich besser, dass ich es nicht geschafft habe. Jetzt, wo Palmer und Flynn dort den Laden schmeißen und der Kongress die Prohibition verabschiedet hat, bin ich sowieso nicht mehr so scharf auf Washington.«
»Schade um Roosevelt.« Im Gegensatz zu dem Detective, der Rus-velt sagte, sprach Younger den Namen als Rose-a-velt aus, so wie die Roosevelts selbst.
»Woran ist er eigentlich gestorben? An der Kugel, die sie nicht aus seiner Brust rausholen konnten?«
»Nein«, antwortete Younger. »An seiner Malaria.«
»Sind Sie ihm mal begegnet?«
»Ein oder zwei Mal. Er war mit mir verwandt.«
»Sie sind doch mit allen verwandt.«
»Nur weitläufig. Seine Tochter Alice kenne ich besser. Das heißt, ich war kurz mit ihr bekannt.«
»Was Sie nicht sagen.«
Younger schwieg.
»Verflixt, Doc — Roosevelts Tochter?«, rief Littlemore. »Und noch dazu eine Schönheit! Warum haben Sie sie nicht geheiratet?«
»Erstens hatte sie einen Mann.«
»Doc, Doc, Doc. T.R.s Tochter. War das vor oder nach Nora?«
»Ein berüchtigter Schürzenjäger.«
»Sie sind kein Schürzenjäger.«
»Ich meinte den Mann von Alice. Trotzdem danke.«
»Sie sind eher ein Frauenheld.«
»Ah, eine subtile Unterscheidung.« Younger winkte ab. »Aber ich bin auch kein Frauenheld. Ich schlafe nicht mit ihnen. Außer ich mag sie, und das ist nur selten der Fall. Und Sie, sind Sie immer treu?«
»Ich?« Littlemore lachte. »Ich halte mich an meinen Dad. Er hätte so was nie gemacht, also mache ich es auch nicht.«
»Wie geht es ihm überhaupt — Ihrem Dad?«
»Gut. Ich besuche ihn noch immer fast jedes Wochenende. « Littlemore trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Drobac — was ist das überhaupt für ein Name?« Colette hatte der Polizei berichtet, dass der entflohene Entführer von seinen Helfern Drobac genannt worden war. »Und warum hat er gefragt, wo sie sind? Was hat er damit gemeint?«
»Und warum hat er seinen Komplizen umgebracht?«, fiel Younger ein.
»Das ist einfach: damit er nicht redet.« Littlemore legte
die Hände auf den Tisch und änderte den Tonfall. »Aber wissen Sie, was ich wirklich nicht verstehe?«
»Was ich mit Colette will.«
»Sie schleppen sie aus Frankreich hierher, aber Sie bringen sie in Connecticut unter.« Littlemore begann sich sichtlich für das Thema zu erwärmen. »Sie drehen durch, wenn sie verschwindet, aber wenn sie da ist, benehmen Sie sich, wie soll ich sagen, sehr korrekt.«
»Sie fragen sich also, wann ich ihr endlich einen Antrag mache.«
»Warum hätten Sie sie sonst über den Atlantik geholt? Außer Sie haben vor, sie zugrunde zu richten.«
»Sie scheinen sich ja sehr für meine Heiratsabsichten zu interessieren.«
»Und? Haben Sie es vor oder nicht?«
»Sie zugrunde zu richten? Das hab ich schon probiert.« Younger nahm einen tiefen Schluck. »Wollen Sie es hören?«
»Klar.«
5
I m Oktober 1917 wurde Lieutenant Stratham Younger in das amerikanische Feldlazarett von Einville unweit von Nancy versetzt, wo die Truppen der US Army an der Front zum Einsatz kamen. Zu dieser Zeit dienten die amerikanischen Soldaten noch unter französischem Kommando, und letztendlich behandelte Younger mehr Franzosen als Amerikaner. Im Verlauf des harten Winters und des folgenden Frühlings zog Younger als Angehöriger der Ersten und später der Zweiten Division an der Westfront entlang und kam überall dort zum Einsatz, wo die Not am größten war: Saint-Mihiel-Bogen, Seicheprey, Chaumont-en-Vexin, Cantigny, Bois de Belleau.
Dort, in der Nähe der Wälder von Belleau, am Rand von Château-Thierry, begegnete er Colette zum ersten Mal.
Der Morgen dämmerte. Als der Himmel allmählich rot wurde, ließen die heftigen Bombardements der
Weitere Kostenlose Bücher