Todesinstinkt
Nacht nach. Younger kam aus den Wäldern in offenes Terrain und schleppte einen alten französischen Korporal zum Lazarettlager. Die weißen Zelte, die Tische und die Instrumententruhen waren alle an Ort und Stelle, aber kein Arzt oder Sanitäter war zu sehen. Offenbar war der medizinische Stab in großer Eile abmarschiert.
Von der anderen Seite des Feldes drangen Geräusche herüber. Französische Infanteristen scharten sich um einen Lastwagen vom Roten Kreuz. Sie erinnerten Younger an
Kinder, die sich um einen Eiscremekarren drängen, nur dass sie etwas männlich Ungestümes ausstrahlten.
Mit dem Arm des Korporals über der Schulter überquerte Younger das Feld durch Schwaden von Nebel, die am zerfurchten Boden hafteten. Vor dem Lastwagen stand eine junge Frau, umgeben von einem Halbkreis ausgelassener Soldaten. Mit dem Rücken zu ihnen beugte sie sich durch ein Fenster ins Führerhaus. Die Männer riefen ihr auf Französisch – das Younger gut verstand – erfundene Krankheiten und gespielte Bitten um Behandlung zu. Einer grölte besonders laut und forderte die Frau auf, ihm ins Hemd zu fassen; sein Herz, so meinte er, schlage beängstigend schnell und sei gefährlich angeschwollen.
Mit einer braunen Tüte in den Händen tauchte sie wieder aus der Fahrerkabine auf. Sie war schlank, anmutig, dunkelhaarig, ungefähr zwanzig. Sie hielt das Kinn erhoben und hatte unwahrscheinlich grüne Augen. Sie trug einen schlichten Wollrock und eine hellblaue Strickjacke, war also eindeutig keine Krankenschwester.
Sie redete mit den Männern. Younger konnte ihre Worte nicht hören, sah aber, dass sie dem vorlauten Kerl die Tüte zuwarf. Dieser fing sie auf und ließ dabei sein Gewehr fallen, was die anderen zu schallendem Gelächter bewegte. Wieder sprach sie. Einer nach dem anderen verstummten die Soldaten und trollten sich betreten. Sie wirkte nicht befriedigt über ihren Sieg, sondern nur müde. Müde, angespannt und wunderschön. Als sich die Infanteristen zerstreut hatten, blieb nur noch Younger in seiner verschmutzten Uniform übrig, dem der verwundete Korporal schwer auf der Schulter lastete. Die Frau bemerkte, dass Younger sie anstarrte, und strich sich eine Locke aus dem Gesicht.
Nachdem er den alten Korporal, der ein ledriges Gesicht und graues Haar hatte, ins Gras gelegt hatte, schritt Younger auf die junge Frau zu, die instinktiv zurückwich. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging er an ihr vorbei und öffnete die Tür des Lastwagens.
Drinnen entdeckte er zwei Dinge, die ihn überraschten. Zum einen einen Jungen, nicht älter als acht, der im hinteren Teil der Kabine hockte und im Halbdunkel ein Buch las. Zum anderen einen komplizierten radiologischen Apparat mit einer großen Glasplatte, schweren Vorhängen und Gasampullen.
Younger wandte sich zu der Frau um. »Wo ist Ihr Freund?«
»Was?«
»Wo ist der Mann, der das Röntgengerät bedient?«
»Ich bediene es«, antwortete sie.
Er musterte sie von oben bis unten. »Sie sind eine von Madame Curies Schülerinnen.«
»Ja.«
»Dann an die Arbeit. Außer Sie wollen, dass der Korporal hier stirbt.«
»Zwecklos«, antwortete sie. »Die Chirurgen sind alle fort.«
»Bereiten Sie ihn einfach bis zum Einbruch der Dunkelheit vor.« Younger flüsterte dem alten Soldaten ein paar leise Worte ins Ohr, dann verschwand er wieder in den Wäldern, aus denen er gekommen war.
A ls Younger zurückkehrte, war bereits der Mond aufgegangen. Er fand das Lager so vor, wie er es verlassen hatte: unversehrt, aber verlassen. Nur in einem Zelt brannte elektrisches Licht. Daneben parkte der Lastwagen, und mehrere
Kabel liefen vom Fahrzeug zum Zelt. Die junge Frau benutzte den Motor als Stromquelle.
Younger hob die Zeltklappe und trat ein. Alles war bereit. Der alte Korporal, der Dubeney hieß, lag schlafend auf einem Operationstisch, das Gesicht gewaschen, das Haar gekämmt. Die Instrumente waren ordentlich aufgereiht. Gleich daneben warteten Schüsseln mit Wasser. Die Frau erhob sich aus einem Stuhl. Zu ihren Füßen saß der kleine Junge, der immer noch las. Ohne ein Wort griff sie nach einer Mappe mit Röntgenaufnahmen und mathematischen Berechnungen, die sie Younger reichte.
Er hielt die Platten vor eine nackte Glühbirne. Vor einem Hintergrund weißer Knochen und grauer Eingeweide hoben sich klar und deutlich mehrere kleine, schwarze Punkte ab. Wenn jemand eine Ladung Schrot in den Bauch bekam, ging die größte Gefahr nicht von einer Schädigung der Organe aus,
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