Todesinstinkt
schneller.«
»Die Boches, Sir.« Der Mann flüsterte. »Sie werden hier in zehn Minuten bombardieren.«
»Woher wollen Sie das wissen, Soldat?«
Der Verwundete vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. »Es ist ... eine Art Vereinbarung, Sir.«
»Tatsächlich?« Younger sah dem Mann in die Augen, um zu erkennen, ob er fantasierte. Aber er wirkte ganz normal. »Sie bombardieren uns hier vierzig Minuten lang, und dann haben wir eine Stelle, wo wir sie vierzig Minuten lang beschießen. Jeden Tag zur gleichen Zeit, am gleichen Ort. So kommt niemand zu Schaden.«
Younger stockte in seiner Arbeit. »Die Offiziere sind damit einverstanden?«
»Die wissen nichts davon«, bekannte der Mann. »Das haben wir Artilleristen miteinander ausgemacht. Sie sagen es doch nicht weiter, Sir?«
Younger dachte kurz nach. »Nein, ich sage nichts.«
Z wei Tage später fingen Funker um 5.45 Uhr in ganz Frankreich auf allen Kanälen ein Signal vom Eiffelturm auf. Es war eine Botschaft von Marschall Foch, dem Oberbefehlshaber der alliierten Truppen, der das Ende des Krieges verkündete. Ein Waffenstillstand war unterzeichnet worden. Punkt elf Uhr sollten alle Kampfhandlungen eingestellt werden.
Um neun Uhr war die Order zur Waffenruhe offiziell an
die alliierten Kommandanten übermittelt und auch den Soldaten in den Schützengräben mitgeteilt worden. Seltsamerweise machte die Nachricht ausgerechnet diejenigen nervös, die am meisten zu gewinnen hatten. Männer, die gelernt hatten, sich Monat für Monat ohne Rücksicht auf das eigene Leben in starkes Maschinengewehrfeuer zu stürzen, fürchteten plötzlich, dass sie in den letzten zwei Stunden des Krieges sterben könnten.
Um 10.30 Uhr nahm das Regiment, bei dem Younger diente, die deutschen Stellungen jenseits des Niemandslands unter massiven Granatenbeschuss. In einem Offiziersbunker rief Younger einen ihm bekannten Lieutenant an, um zu erfahren, was um Himmels willen da los war.
»Wir greifen an«, meinte der Lieutenant lapidar.
»Was?« Younger konnte es nicht fassen. Dann bemerkte er Infanteristen, die mit gespannten Gesichtern durch das Gewirr der sich kreuzenden Gänge defilierten, ausgerüstet und bewaffnet für den Angriff. Aus Richtung der Front hörte er laute Befehle und feuernde Maschinengewehre — von der deutschen Seite. Das hieß, die alliierten Soldaten kletterten bereits aus den Gräben.
»Das ist doch Wahnsinn«, entfuhr es Younger.
Der Lieutenant zuckte die Achseln. »Befehl.«
Um 10.56 Uhr erging das Kommando an die Alliierten, den Angriff abzubrechen. Es dauerte ungefähr zwei Minuten, bis die Order vom Hauptquartier bis zu den Gefechtsständen und den Kommandierenden im Feld vorgedrungen war. Um 10.58 verstummten die letzten alliierten Waffen. Um 10.59 schwieg auch die deutsche Artillerie. Eine fragile Stille hing ätherisch in der Luft.
Zwölf Sekunden später hörte Younger das Pfeifen einer
letzten herannahenden Granate – nach dem Geräusch zu urteilen, aus einem 75-Millimeter-Geschütz mit großer Reichweite abgefeuert. Das Geschoss schlug ganz in der Nähe ein; unter ihm erzitterte die Erde, und von den Mauern rieselte Staub. Gut möglich, dass die Granate einen Unterstand getroffen hatte, vielleicht sogar einen bemannten. Alle warteten mit angehaltenem Atem. Dann hörten sie die Detonation von drei alliierten Haubitzen. Wahrscheinlich zielten sie auf das deutsche Geschütz, das die letzte Granate abgeschossen hatte.
»Nein«, flüsterte Younger.
Natürlich erwiderten die Deutschen das Feuer. Kurz darauf war die Luft wieder erfüllt vom Heulen und Beben eines erbitterten Bombardements. Das Gefecht dauerte mehrere Stunden ununterbrochen an. Über den Himmel zogen sogar Leuchtgeschosse, die am Tag völlig sinnlos und ohnehin harmlos waren. Beide Seiten schienen kein anderes Ziel zu verfolgen, als auch noch die letzte Munition im Arsenal zu verschießen.
An diesem 11. November 1918 wurden elftausend Männer getötet oder verletzt in einer Schlacht, die stattfand, obwohl der Krieg schon vorbei war.
N ach dem Waffenstillstand wurde Younger zur Besatzungsarmee beordert. Die Überschreitung der Grenze nach Deutschland war eine Offenbarung: überall grüne, gut gehegte Felder, unbeschädigte Dächer und Kamine, zufriedene Rinder auf fetten Wiesen, von reichen Ernten wohlgenährte Bäuerinnen. Ein Bild, das den alliierten Soldaten, aber vor allem den Franzosen nach der Zerstörung ihrer Heimat bitter aufstieß.
In Bitburg hatte
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