Todesinstinkt
Street und Broadway — so haben Sie es doch beschrieben, oder? Um 11.58 Uhr wird die Post rausgeholt. Um 12.01 Uhr geht die Bombe hoch. Wie viel Zeit liegt zwischen 11.54 und 12.01?«
»Sieben Minuten, Sie Geistesriese«, knurrte Flynn.
»Sieben Minuten.« Littlemore schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, Chief, genau das wundert mich. Glauben Sie wirklich, die lassen die Bombe sieben Minuten allein vor sich hin ticken? Ich hätte das nicht gemacht. Ich meine, wo der Wagen doch den Verkehr blockiert. Ich hätte den Zeitzünder
höchstens auf ein, zwei Minuten eingestellt. Denn in sieben Minuten könnte doch jemand das Pferd wegführen oder vielleicht sogar die Bombe finden.«
»Aber so war es nicht«, bellte Flynn. »Was soll daran unmöglich sein?« Er drehte den Kopf. »Schmeißt den Kerl endlich raus.«
»Vielleicht hat niemand das Pferd weggebracht, weil es nur zwei Minuten dort war.« Littlemore beobachtete in aller Ruhe, wie die beiden Assistenten auf ihn zukamen.
Flynn schnippte seinen Helfern zu, damit sie noch warteten. »Wovon reden Sie überhaupt?«
»Meine Männer haben Aussagen von vielen Leuten aufgenommen, die gestern in der Nähe des Tatorts waren, Chief Flynn. Augenzeugen. Der Pferdekarren hat erst ein oder zwei Minuten vor der Explosion auf der Wall Street gehalten. Alle Achtung vor Ihren Anarchisten. Sie verlassen die Wall Street also um 11.59 oder 12.00 und sind vor 11.58 an der Ecke Cedar und Broadway, damit der Postmann noch rechtzeitig ihre Wurfsendungen abholt. Wie soll man Leute fangen, die so was schaffen?«
Niemand antwortete. Flynn stand auf und strich sich das Pomadehaar zurück. »Sie sind also ein Captain? Wie viele Untergebene haben Sie? Sechs?«
»Genug.« Littlemore dachte an die Beamten Stankiewicz und Roederheusen.
»Ich habe tausend. Und meine Leute sind nicht wie Ihre. Es gibt zwei Sorten von Cops bei der New Yorker Polizei: die, die die Hand aufhalten, und die, die vor Dummheit nicht merken, dass alle anderen die Hand aufhalten. Zu welcher Sorte gehören Sie?«
»Zu den Dummen«, antwortete der Detective.
»So sehen Sie auch aus«, stellte Flynn fest. »Ich kann nur hoffen, dass Sie nicht so dumm sind, meine Untersuchung zu behindern.«
Littlemore erhob sich ebenfalls. »Ich weiß nicht, ich bin schon ziemlich dumm.« Er machte die Tür hinter sich zu.
Flynn wandte sich seinen Assistenten zu. »Bringt mir eine Akte von dem Kerl. Alles über Frau, Freunde, Verwandte. Und schaut nach, ob Hoover was über ihn hat.«
L uc riss sich von Younger los und rannte zur anderen Seite der Plattform, von der man aufs Wasser sehen konnte. In der Nähe riefen Schuljungen und deuteten aufgeregt auf etwas unten am Boden. Luc lief zu ihnen.
»Schauen Sie nur.« Younger lächelte. »Er versteht, was die Burschen sagen.«
»Die Worte nicht — wie könnte er das?«, entgegnete Colette.
»Er kann die Zeitung lesen.«
»Auf Englisch? Unmöglich.« Colette stand neben ihm am Geländer und blickte hinaus auf das weite städtische Panorama. Sie legte die Hand auf seine. »Wenn ich nur nicht zurückmüsste.«
Er zog die Hand weg und nahm eine Zigarette heraus.
»Ist es Ihnen gleichgültig, wenn ich fahre?«
»Ich habe Sie an Boltwood empfohlen. Wenn Sie ihn verlassen, hat er niemanden, der sein Labor leitet. Natürlich ist es mir nicht gleichgültig.«
»Ach, ich mag Ihren Professor Boltwood sowieso nicht. Wissen Sie, was er neulich über Madame Curie gesagt hat? Dass sie eine ›abscheuliche Idiotin‹ ist.«
»Er ist bloß eifersüchtig. Jeder Chemiker der Welt ist eifersüchtig auf Marie Curie.«
»Männer sind grausam, wenn sie eifersüchtig sind.«
»Tatsächlich? Da kann ich nicht mitreden.«
Auch wenn jemand zufällig einen Blick auf den Mann geworfen hätte, der zur Mitte der Plattform gehinkt war, hätte er nichts von dem Dolch in seiner rechten Hand bemerkt, der unsichtbar in seinem Ärmel steckte. Selbst Colette hätte Drobac wohl kaum erkannt, dessen dichtes Bartgestrüpp abrasiert war. Nur seine Augen — die klein, schwarz und durchdringend unter dem tief herabhängenden Hut hervorstarrten – hätten ihn vielleicht verraten. Er hielt das Messer an der Klinge und strich mit einem Finger über den Rand. Dabei bestand keine Gefahr eines Schnitts: Wie bei allen guten Wurfmessern waren beide Kanten stumpf. Nur die Spitze war scharf.
Wenn ein erfahrener Messerwerfer jemanden töten will, schleudert er seine Waffe auf das Herz des Opfers. Von den Organen, deren
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