Todesinstinkt
Sechzehnten? Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher. Er hat es nicht nur einmal geflüstert. Ich hab ihn gefragt, was er damit meint. Da hat er erzählt, er arbeitet nebenher für den Geheimdienst, und seine Aufgabe ist, Anarchisten dingfest zu machen. Und dann sagt er: ›Sie haben sechzigtausend Pfund Sprengstoff und werden ihn hochgehen lassen.‹ Das war sein voller Ernst. Das war ihm anzumerken. Das war er doch, nicht wahr? Dieser Fischer?«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Ich hab am Sechzehnten einen Bogen um die Wall Street gemacht.«
A ls die drei Sicherheitskräfte von Woolworth endlich eintrafen, rissen sie Younger von dem blutverschmierten Mann weg und legten dem Arzt Handschellen an.
Sie ließen sich auch nicht von Youngers Aussage beeindrucken, dass das Opfer seines Angriffs die Frau umgebracht hatte, die soeben in den Tod gestürzt war. Niemand sonst hatte den Mord bemerkt, und auch Younger musste
zugeben, dass er die Tat selbst nicht beobachtet hatte. Ebenso ungerührt nahmen die Wachleute die Erklärung zur Kenntnis, dass derselbe Mann am Vorabend eine andere Frau entführt hatte — eine Frau, die in diesem Moment draußen auf der Aussichtsplattform war. Insgesamt waren sie offenbar der Meinung, dass er fantasierte.
Schließlich wurden Colette und Luc geholt. Ohne Younger zu Wort kommen zu lassen, fragten die Sicherheitskräfte Colette, ob sie den Bewusstlosen kannte, den Younger fast zu Tode geprügelt hatte. Sie verneinte. Drobacs zerklumptes Gesicht war tatsächlich schwer wiederzuerkennen.
»Ihr Gatte gibt an, dass dieser Mann Sie gestern entführt hat«, sagte einer der Sicherheitskräfte.
»Er ist nicht mein Gatte«, antwortete Colette.
»Verlogener Schweinehund«, knirschte der andere Wachmann.
»Ich habe nie behauptet, dass sie meine Frau ist«, entgegnete Younger.
Luc zupfte unermüdlich an Colettes Ärmel, bis sie auf ihn aufmerksam wurde. Er machte Zeichen mit den Händen. Sie fragte, ob er sich ganz sicher war. Er nickte. »Es ist der Mann, der uns verschleppt hat. Mein Bruder erkennt ihn wieder.«
Zweifelnd erkundigten sich die Sicherheitskräfte, woher der Junge das wusste.
Luc gestikulierte erneut.
»Er weiß es eben.«
Es gelang Colette nicht, mit dieser Feststellung die Zweifel der Wachleute auszuräumen. Zuletzt brachten sie den blutig geschlagenen Mann ins Krankenhaus und nahmen Younger in Haft.
D ie Morgan Bank, die am Tag nach der Explosion ganz normal geöffnet hatte, erinnerte eher an eine Krankenstation als an einen Tempel der Hochfinanz. An jedem zweiten Schreibtisch war ein Kopfverband oder eine Augenklappe zu bemerken. Angestellte hinkten, Männer mit einem Arm in der Schlinge tippten einhändig auf Addiermaschinen. Das Gesicht eines Wachmanns war so verhüllt, dass nur Augen und Nase zu erkennen waren.
»Mr. Lamont wird gleich bei Ihnen sein«, sagte eine Rezeptionistin zu Littlemore.
Die J.P. Morgan Company war keine gewöhnliche Bank. Das Haus Morgan nahm Einfluss auf internationale Beziehungen und schrieb Geschichte. Es war die Morgan Bank, die die Vereinigten Staaten während der Goldpanik von 1895 und erneut während der Bankenpanik 1907 vor dem Ruin bewahrt hatte. Es war die Morgan Bank, die ein Konsortium von Finanziers leitete, um die Alliierten mit einem Kredit von fünfhundert Millionen Dollar zu unterstützen, ohne die sie den Großen Krieg mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gewonnen hätten. Der alte Titan J. Pierpont Morgan war im Jahr 1913 gestorben. Sein Sohn Jack Jr. verbrachte nicht so viel Zeit wie sein Vater in der Bank und ließ die ungeheuren Vermögenswerte und Finanzinteressen von einem Teilhaber verwalten. Dieser Teilhaber war Thomas Lamont.
Mit einem kurzen Tippen an den Hut grüßte Littlemore das Dutzend uniformierter Polizisten, die das Sicherheitskontingent der Bank verstärkten. Außerdem nickte er dem halben Dutzend Zivilbeamten zu, die in der Haupthalle verstreut waren. Der Detective spähte hinauf zu der hohen Kuppel, die mit Gerüsten verkleidet war, damit Arbeiter
entlegene Winkel erreichen konnten. Hammerschläge hallten durch die Luft.
Unten auf dem Boden redete Mr. Lamont – schmächtig und klein, teuer, aber konservativ gekleidet — mit rund zwanzig Männern und beantwortete Fragen wie ein Fremdenführer. Er war der richtige Typ für die Leitung der Morgan Bank: Absolvent der Phillips Exeter Academy und des Harvard College, Vertreter der Vereinigten Staaten bei der Pariser Friedenskonferenz von 1919. Er hatte
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