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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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ihr mochte. Vorbei an Stadthäusern, die dem seinen mehr oder weniger ähnelten, schlenderte er zum Public Garden und setzte sich auf eine Bank am See. Das Wasser war so glatt, dass jeder Schwan und jedes Paddelboot ein Spiegelbild darauf erzeugte. Erst nachdem er sich eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte, merkte er, dass er keine Streichhölzer dabeihatte. Die Tatsache, dass er ohne Anstellung in Boston war, schien ihn über Gebühr zu irritieren.
    Nach der Scheidung hatte sich Younger in die wissenschaftliche Arbeit gestürzt und Tag und Nacht in einem Labor unter dem medizinischen Institut von Harvard verbracht. Damals beschäftigte er sich mit mikroskopischen Infektionserregern. Einen Namen machte er sich 1913 mit der Isolierung von Syphilisspirochäten im Gehirn von Personen, die an allgemeiner Parese gestorben waren, ein Krankheitsbild, das bis dahin auf psychiatrische Ursachen zurückgeführt worden war. Er traf niemanden und nahm keine gesellschaftlichen Verpflichtungen wahr.
    Dann geschah etwas Unvermutetes. Er hatte erwartet, dass man ihn wie einen Aussätzigen behandeln würde. Scheidungen mochten in Boston zwar nicht verboten sein, aber sie wurden sicher nicht mit Wohlwollen betrachtet. Doch sein soziales Ansehen wuchs. Ob es an seiner respektablen Position in Harvard lag, seiner berüchtigten Affäre in New York oder, am wahrscheinlichsten, dem Erbe, das ihm von den mit seiner Mutter verwandten Schermerhorns in den Schoß fiel — Younger rückte sowohl in Boston als auch in New York in den Mittelpunkt des Interesses. Zuerst lehnte er alle Einladungen ab. Doch nachdem er zwei Jahre
lang den Einsiedler gespielt hatte, fing er an auszugehen. Und zu seiner Verwunderung machte es ihm Spaß.
    Bei gesellschaftlichen Anlässen lieh er begehrten jungen Damen seinen Arm. Er küsste ihnen die Hand und tanzte mit ihnen, als wollte er ihnen den Hof machen. Doch das war nie der Fall, denn diese Backfische langweilten ihn. Er bevorzugte Schauspielerinnen und ließ sich in New York zu seiner Schande sogar mit ihnen sehen. In all diesen Jahren schlief er nur mit drei Frauen, und selbst diese konnte er nur kurze Zeit ertragen. Es kam so weit, dass er in zwei Städten zugleich der gefragteste und gehassteste Mann war. Selbst die Schauspielerinnen waren am Ende meistens wütend auf ihn. Jedes Jahr rechnete er damit, dass sich die Gesellschaft gegen ihn auflehnen und ihn ächten würde. Doch irgendwie wurde die Zahl der Mütter, die darauf hofften, dass ausgerechnet ihre Tochter ihn sich angeln könnte, nur immer größer. 1917, beim Einführungsball der hübschen Miss Denby im Waldorf, drängte ihn die bezaubernde Mutter der Debütantin so beharrlich, mit ihrer Tochter zu tanzen, dass er bewusst und für alle sichtbar alle Mädchen außer Miss Denby aufforderte. Er trank so übermäßig, dass er sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern konnte, das Fest verlassen zu haben, und in einem Hotelzimmer neben einem unbekannten weiblichen Wesen aufwachte. Wie sich herausstellte, war es Mrs. Denby.
    Einige Wochen später traten die Vereinigten Staaten in den Krieg ein. Er meldete sich sofort freiwillig.
     
    A ls Younger in sein Haus zurückkehrte, war die Nachmittagspost eingetroffen und mit ihr ein Brief von Colette. Noch im Flur machte er ihn auf.

    25.9.1920
    Lieber Stratham,
    ich kann nicht tun, was Sie verlangen. Inzwischen habe ich erkannt, dass alle Ereignisse in Amerika nur Zeichen sind, die mich auffordern, nach Europa zurückzukehren. Gott will es wohl so. Schwüre sind heilig. Ich muss meinen einhalten, auch wenn er noch so überstürzt und falsch war. Vielleicht werde ich erkennen, dass er nicht der Richtige ist. Aber es ist Gott, der diese Gefühle in unser Herz legt, dessen bin ich gewiss. Ich bitte Sie, dies zu verstehen – und mit mir zu kommen. Ich brauche Sie. Ihre Colette
    Er verstand es nicht. Warum schrieb sie, dass sie ihn brauchte, da dies ganz offensichtlich nicht so war? Wenn es Geld war, was sie benötigte, dann konnte sie ihn doch einfach darum bitten.
    Beim Durchstöbern seiner Post stieß Younger auf eine Abrechnung seiner Bank. Kalten Auges registrierte er, dass sein Kontostand, der sich vor dem Kauf des Hauses im sechsstelligen Bereich bewegt hatte, auf vier Stellen geschrumpft und dass die erste von diesen vier eine Eins war. Nach Antritt seiner Erbschaft hatte Younger sein Professorengehalt und später seinen Sold dem einen oder anderen unerträglichen Bostoner Wohlfahrtsverband

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