Todeskind: Thriller (German Edition)
zu einer Art Schild. Es gefiel ihr, selbst entscheiden zu können, welche Daphne die Welt zu sehen bekam. Es gefiel ihr, die Kontrolle zu haben, nachdem sie in den Jahren zuvor so oft machtlos gewesen war. Es war gut, äußerlich gefasst und zuversichtlich zu wirken, auch wenn sie innerlich noch immer mit Panikattacken zu kämpfen hatte.
Sie kamen zwar weit weniger oft als früher, aber vorhersehen ließen sie sich auch heute noch nicht. Manchmal wurden sie ausgelöst durch eine der allgegenwärtigen rosa Schleifen, die sie immer wieder gnadenlos daran erinnerten, dass der Krebs zurückkommen konnte, und ab und zu war es eine Tiefgarage, die sie mental in eine enge unterirdische Kammer und die Schrecken ihrer Kindheit zurückschleuderte.
Wenn eine Panikattacke in ihr aufwallte, konnte sie sich meistens auf ihre Fassade verlassen, hinter der sie sich verbarg, während sie mit ihren Ängsten rang. Gewöhnlich hielt die Fassade, so lange es nötig war.
Es sei denn, sie hörte den Satz. Vier schlichte Worte in einem spöttischen Singsang hatten noch immer eine derart vernichtende Macht, dass auch die Fassade bröckelte. Sie hatte sich selbst erzogen, sofort abzuschalten, wenn jemand begann, die ersten Worte auszusprechen: Hast du …
Schluss! Sie betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel und zerrte ihren Verstand wieder auf sicheren Boden zurück. Bring deine Frisur in Ordnung, Daphne. Reparier die Fassade. Es war eine Krücke, das wusste sie, aber sie schadete ja niemandem damit. Die Restaurierung der Fassade erdete sie – was also war daran schlimm?
Sie rückte die Perücke zurecht und steckte sie fest. Dann kämmte sie das echte Haar so über den Ansatz, dass es nahtlos in das falsche überging. Jetzt konnte niemand mehr sehen, dass sie eine Perücke trug. Außer vielleicht ein Friseur mit einem sehr, sehr guten Auge.
Oder irgendwelche wild gewordenen Mütter, die versuchten, ihr das Ding vom Kopf zu zerren. Sie kniff die Augen zusammen und atmete tief durch.
Inzwischen hatte sie wieder so viel Kontrolle über sich, dass sie ihr Make-up erneuern konnte. Die verfluchten Fernsehkameras erfassten jede Pore, jeden Makel. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie einfach durch die Hintertür entwischen sollte, aber das hätte sich angefühlt, als würde sie Cindy einen Sieg zugestehen.
Vergiss es, Baby. Sie schraubte die Kappe der Wimperntusche ab, aber ihre Hände zitterten noch immer zu stark, um die Mascara aufzutragen. Plötzlich vibrierte das Handy in ihrer Tasche. Daphne fuhr heftig zusammen. Dann eben nicht, dachte sie und griff nach dem Handy. Stirnrunzelnd starrte sie aufs Display. Millionen von Nachrichten.
Reporter natürlich. Sie hatte es aufgegeben, ihre Nummer zu ändern; das schien ohnehin niemanden daran zu hindern, sie anzurufen. Sie ignorierte den Anrufbeantworter, las die SMS an und lächelte. Eine war von Ford, die er ihr geschickt hatte, während sie auf die Rückkehr der Geschworenen wartete. Viel Glück, Mom! Er war ein großartiger Sohn.
Sie zwang ihre Hände so weit zur Ruhe, dass sie tippen konnte: Danke. Melde dich. LD.
Viele Nachrichten von Paige. Die ersten drei waren Informationen über das gestrige Treffen mit einem Bauunternehmer, den sie für das neueste Projekt der Stiftung unter Vertrag genommen hatten: Sanierung und Umbau einer alten Schule zu einer Einrichtung für alleinerziehende Mütter, die sich einer Chemotherapie unterziehen mussten. Das Projekt war ein Traum von Daphne, seit sie selbst vor Jahren frisch geschieden und mit einem Zwölfjährigen an der Hand vor diesem Problem gestanden hatte.
Damals hatte Daphnes Mutter sich um sie und Ford gekümmert, aber es gab viele Alleinerziehende, die niemanden hatten, der sie auffangen konnte. Sie hatte sich geschworen, dass sie eines Tages daran etwas ändern würde, und mit der Hilfe von Paige und vielen anderen Personen war dieser Tag nun endlich gekommen.
Die nachfolgenden SMS, die Paige geschickt hatte, klangen immer dringlicher. Sie hatte die Nachrichten gesehen und von dem Drama im Gericht gehört. Niemand gab Einzelheiten heraus, und sie hatte Grayson nicht erreichen können. Armes Mädchen, dachte Daphne. Dreht offenbar halb durch.
Alles okay, tippte sie. Sage Grayson, er soll dich sofort anrufen.
Sie war nicht überrascht, einen Haufen SMS von ihrer Mutter vorzufinden – die meisten waren in den vergangenen zehn Minuten eingetroffen. Daphne kannte ihre Mutter: Bestimmt hatte sie den Fernseher in ihrem Geschäft
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