Todeskind: Thriller (German Edition)
Hütte in Bewegung.
Baltimore, Maryland
Donnerstag, 5. Dezember, 14.30 Uhr
Ich bin ein Idiot. Clay kniff sich in den Nasenrücken, während der Aufzug ihn zur Intensivstation brachte, wo Stevie lag. Er wusste, dass es hoffnungslos war, aber er konnte doch nicht einfach fortbleiben.
Das hat sie ja auch gar nicht verlangt, dachte er. Was natürlich eine jämmerliche Ausrede war. Sie hatte einen Schlauch im Hals gehabt. Sie hätte nichts sagen können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Doch jetzt war der Schlauch entfernt worden. Sie konnte sagen, was immer sie loswerden musste. Und wenn sie ihn nicht mehr sehen wollte, dann hatte er wenigstens noch eine Bitte an sie. Eine, die ihr vielleicht ein Ziel geben würde, wenn sie mit der Reha anfing.
Das Wartezimmer war belagert von Familienmitgliedern und Polizisten. Es war so voll, dass es nur noch Stehplätze gab, und so war es praktisch von Anfang an gewesen. Denn es handelte sich um Stevie, und Stevie liebten alle.
Ihre Eltern arbeiteten sich durch den Wartebereich, schüttelten Hände und küssten die Besucher auf beide Wangen. Als sie ihn sahen, leuchteten ihre Gesichter auf, und Stevies Mutter schlang die Arme um seinen Nacken.
Trotz allem musste Clay lächeln. »Wie geht es ihr?«, fragte er, und beide Nicolescus zuckten die Schultern.
»Sie ist nicht unsere Stefania«, sagte ihre Mutter. »Noch nicht.«
»Viel zu höflich«, klagte ihr Vater. »Uns fehlt das Feuer.«
»Das kommt wieder«, versprach Clay zuversichtlicher, als er sich fühlte. Jemand zupfte an seinem Hosenbein, und er blickte hinab.
Die kleine Cordelia saß auf dem Boden und malte mit Stevies Schwester Izzy ein Bild. Cordelia lächelte schüchtern zu ihm auf, und Clay ging neben ihr in die Hocke.
»Ich hab dein Kunstwerk bekommen«, sagte er. Sie hatte ihn mit einem Heiligenschein gemalt. Und jedes Mal, wenn er daran dachte, schnürte sich ihm die Kehle zusammen. »Danke. Es ist toll geworden.«
»Prima«, sagte sie und strahlte. »Ich mal dir noch eins, ja?«
»Gern. Ich wollte deiner Mama eigentlich mal eben hallo sagen, aber hier muss man sich ja anstellen.«
»Du rückst automatisch an die erste Stelle vor«, erklärte Izzy. »Auf Mamas Befehl.«
Weniger als fünf Minuten später war Clay desinfiziert und näherte sich Stevies Raum mit schwitzigen Händen. Sie lehnte mit dem Oberkörper am leicht erhöhten Kopfteil des Bettes, das dunkle Haar zerzaust, wie er es am liebsten mochte. Endlich hatte sie etwas mehr Farbe im Gesicht.
Als er eintrat, senkte sie den Blick auf ihre Hände.
»Hi«, sagte sie heiser.
Nun, da er hier war, fielen ihm keine Worte ein, also stand er nur da und betrachtete sie ausgiebig.
»Kann ich … etwas für dich tun?«, fragte sie ausgesucht höflich.
»Du weißt, was.« Seine Worte waren so prompt gekommen, dass es sie beide überraschte.
Sie sah ihn verdattert an, dann blickte sie weg, und die Sekunden tickten lauter, als er die Zeit je wahrgenommen hatte.
»Willst du, dass ich gehe?«, fragte er schließlich.
»Ja. Nein.« Wieder sah sie zu ihm auf. »Ich weiß nicht.«
Das war besser als erwartet. Weil er ein Jammerlappen war. Und ein Idiot.
»Hör zu, ich will dich nicht bedrängen.« Er kam näher, die Arme fest vor der Brust verschränkt, weil er sie zu gerne anfassen wollte. »Eigentlich ist das eine glatte Lüge. Ich würde dich liebend gerne bedrängen. Auf tausend mögliche Arten. Aber … deswegen bin ich nicht gekommen. Ein Freund von mir, mein ehemaliger Partner Isaac Zacharias, ist in der Nacht von Montag auf Dienstag umgebracht worden.«
»Von Doug«, krächzte sie und griff nach dem Glas Wasser auf dem Tablett. Er trat ans Bett und hielt ihr den Strohhalm an die Lippen. Sie trank einen Schluck und fiel zurück ins Kissen. »Danke. Es tut mir sehr leid, das mit deinem Freund.«
»Ja. Seine Frau ist mit dem vierten Kind hochschwanger. Und nun ist sie … nur noch ein Zombie. Starrt ständig ins Leere. Wir können sie kaum dazu bewegen, etwas zu essen.«
»Auch das tut mir sehr leid. Aber warum erzählst du mir das?« Ihre Frage war eine Warnung – wenn auch äußerst höflich formuliert –, nicht persönlicher zu werden.
Ihr Vater hatte recht. Ihr Feuer war weg, und es tat Clay in der Seele weh, sie so zu erleben. Aber er war auch wegen Phyllis Zacharias hier. Und wegen mir.
»Weil auch du schon an dem Punkt gewesen bist«, sagte er geradeheraus und sah, wie sie leicht zurückfuhr.
Sie hatte ihren Mann und ihren Sohn
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