Todeskleid: Thriller (German Edition)
Jahren.«
Sie schwieg eine scheinbare Ewigkeit, dann machte sie den Mund auf. »Ich fand ohnehin nicht, dass du wie ein Smith aussiehst«, murmelte sie. Doch er sah keine Verachtung in ihren Augen.
Und keine Überraschung. Diese Erkenntnis traf ihn wie eine Faust in den Magen. »Du wusstest es schon.«
Sie nickte. »Ich habe gestern deinen Bildschirm weggeräumt und bin mit dem Kopf ans Regal darüber gestoßen. Beim Aufstellen deiner Bilderrahmen habe ich das Foto von dir und deiner Mutter gefunden. Vor der Schule. Ich habe nicht mit Absicht geschnüffelt.«
Ihm war schwindelig. »Und wie hast du es herausgefunden?«
»Du standest vor einem Bus, auf dem ›St. Ig.‹ zu lesen war. Im Hintergrund ragten Palmen auf. Ich habe einfach meine Schlüsse gezogen und zu recherchieren begonnen. Ich musste es herausfinden, weil ich gegen meine eigene Regel verstoßen und mit dir schlafen wollte. Ich wollte einfach wissen, ob du vielleicht doch mit mir … zusammenkommen könntest. Eines Tages.«
Beunruhigt zog sie die Brauen zusammen. »Bist du sauer, dass ich es schon weiß?«
»Nein.« Er schluckte. »Erleichtert. Unglaublich erleichtert.«
»Gut. Ich hatte mir Sorgen gemacht. Ich weiß nur, was ich in der Zeitung gelesen habe. Dass du eine der Leichen gefunden hast. Dass später weitere entdeckt wurden und man deinen Vater verhaftet hat. Und dass deine Mutter und du dann verschwunden seid. Du warst erst sieben Jahre alt. Ich … ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht hast.«
»Die Zeitungen haben nicht alles gedruckt«, sagte er ruhig, wohl wissend, dass er sich sein Lebtag an jede Einzelheit erinnern würde.
»Erzähl es mir. Wenn du willst.«
Er zog sie an sich, so dass ihr Kopf wieder an seiner Schulter lag, und sie legte ihre flache Hand auf seine Brust. Über sein Herz. Das sich erneut zusammenzog. Sie hatte es schon gewusst. Und dennoch ist sie hier. In meinem Bett. Sie wusste es und wollte mich trotzdem. Vertraut mir trotzdem.
»Ich hatte einen Piratenfilm gesehen«, begann er. »Darin war eine Schatzkarte zwischen den Steinen einer Mauer versteckt. Ich kannte auch so eine Mauer auf dem Grundstück einer Nachbarin. Die Frau war alt, fast taub und sah nicht mehr besonders gut. Meine Mutter brachte ihr jede Woche die Einkäufe. Ich dachte, der alten Dame wäre es bestimmt egal, wenn ich in ihrer Scheune Pirat spiele.«
»Aber dein Vater hatte da auch schon ›gespielt‹.«
»Leider ja. Ich entdeckte einen lockeren Stein und kratzte und schabte, bis ich ihn rausziehen konnte. Ich war mir sicher, dass ich etwas Tolles finden würde.« Er brach ab, als die Erinnerung so frisch und entsetzlich auf ihn einstürzte, als wäre das alles erst gestern geschehen.
»Und da hast du die Leiche entdeckt?«, fragte sie leise.
Er starrte an die Decke, dann sagte er mit erstickter Stimme: »Sie war noch nicht tot.«
Er spürte, wie Paige die Luft anhielt und erstarrte. »O Gott, Grayson«, stieß sie schließlich hervor.
»Er hatte sie zusammengeschlagen. Auf sie eingestochen. An die Wand gekettet. Sie drehte den Kopf, sah mich und begann zu … gurgeln. Es war …« Er schluckte die bittere Galle, die in seiner Kehle brannte. »Es war das schlimmste Geräusch, das ich je gehört habe. Ich habe mehr Mordopfer gesehen, als ich zählen möchte, aber dieser Laut … Bis heute gefriert mir bei der Erinnerung daran das Blut zu Eis.«
»Du warst doch erst sieben«, hauchte Paige erschüttert. »Was hast du gemacht?«
Er zögerte, wollte es nicht zugeben. Doch, sag’s ihr. »Ich bin abgehauen«, gestand er. »Ich bin weggelaufen und habe mich in meinem Schrank versteckt. Das Mädchen hat versucht, mich um Hilfe zu bitten. Später habe ich erfahren, dass mein Vater ihm die Zunge rausgeschnitten hatte, damit es nicht schreien konnte. Und ich bin einfach abgehauen.«
»Klar bist du abgehauen. Du warst erst sieben!«, wiederholte Paige. »Die meisten Erwachsenen hätten vor Schreck dasselbe getan.«
Das wusste er, aber es hatte ihm nie geholfen. »Meine Mutter suchte nach mir und entdeckte mich irgendwann im Schrank. Ich stammelte etwas von einem Loch in der Mauer, mehr brachte ich nicht hervor, aber meine Mutter wusste, dass irgendetwas Schlimmes passiert war. Als sie das Mädchen schließlich fand, war es schon tot.« Er schluckte schwer, als er sich an die Schuldgefühle erinnerte, die Alpträume, die ihn seither quälten. »Es war zu viel Zeit vergangen. Hätte ich meine Mutter gesucht und ihr alles
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