Todesküste
Telefonnummern
angefordert hatte.
Lüder besah sich die Aufstellung. Neben der
Amtsverwaltung in Meldorf und der Kreisverwaltung, der Agentur für Arbeit in
Heide und einem Pizzaservice fanden sich nur drei weitere, dafür aber
wiederkehrende Rufnummern. »Fritz Merseburger, Eltern«, stand hinter einer
vermerkt. Eine zweite gehörte Elke Römer, die als Schwester gekennzeichnet war.
Hinter der dritten Nummer hatte der Kriminaltechniker eine Reihe von
Fragezeichen gesetzt. Mit dem Namen »Herbert Holl« hatte er nichts anfangen
können. Auch Lüder sagte der Name nichts. Die Vorwahl 040 wies auf Hamburg.
Lüder füllte seinen Kaffeebecher auf, bevor er sich an
den Computer setzte. Er suchte die zur Telefonnummer passende Anschrift heraus
und stellte fest, dass Herbert Holl in der Rathausallee in Norderstedt wohnte.
Schleswig-Holsteins fünftgrößte Stadt war an das Ortsnetz Hamburgs
angeschlossen.
In den Dateien der Polizei fanden sich keine Einträge
über den Mann. Fast keine. Holl war in zwei Fällen Opfer von tätlichen
Übergriffen gegen sich gewesen. Immer war er angegriffen worden. Mehr war aus
der elektronischen Datei nicht ersichtlich. Lüder wählte die zuständige
Kriminalpolizeiaußenstelle Norderstedt an und wurde mit Hauptkommissar
Nieswandt verbunden. Es dauerte eine Weile, bis Nieswandt die Akte aus dem
Archiv besorgt hatte.
»Herbert Holl ist mir namentlich bekannt. Er ist ein
an sich ruhiger Mann. Verheiratet – glaube ich. Moment.« Lüder hörte durchs
Telefon Papier rascheln. »Ja. Wohnt seit fast fünfzehn Jahren in Norderstedt.
Er ist Mitglied einer freien evangelischen Gemeinde, bekennender Antifaschist
und Kriegsgegner. Mit Freunden organisiert er gelegentlich Infostände in der
Stadt. Dabei ist es zwei Mal zu Auseinandersetzungen mit rechtsgerichteten
Jugendlichen gekommen, die die Standbesatzung angegriffen haben.
Sachbeschädigung und leichte Körperverletzung waren die Folgen.«
»Findet sich unter den Tätern ein Silvio Merseburger?«
»Augenblick.« Der Telefonhörer wurde hingelegt, und
Lüder bekam mit, wie Nieswandt einem unbekannten Dritten im Hintergrund
zuraunte: »Die haben auch nichts Besseres zu tun in Kiel, als uns dumme Fragen
zu stellen.« Jemand antwortete, ohne dass Lüder es verstehen konnte. »Holl, der
Weltverbesserer«, sagte Nieswandt zum anderen und stöhnte: »Mist. Wo finde ich
das so schnell?« Schließlich nahm er wieder den Hörer in die Hand. »Hören Sie?
Merseburger finde ich nicht.« Der Hauptkommissar las ein halbes Dutzend Namen
vor. »Die meisten sind uns namentlich bekannt. Alles kleine Lichter. In allen
Fällen wurden die Übeltäter mit Auflagen belegt, wenn die Verfahren nicht
vorher eingestellt worden sind. Sonst noch was?«
Das war nicht ergiebig gewesen. Was verband jemanden,
der sich politisch gegen Merseburger und seine geheimnisvollen Freunde
engagierte, mit dem Möchtegernnazi? Und wenn Holl Kriegsgegner war, gab es erst
recht keine Erklärung, weshalb er den ermordeten Schwarzen aus Husum kennen
sollte, der offensichtlich Verbindungen zur Army hatte. Das ergab im ersten
Moment keinen Sinn, stellte Lüder ein wenig resigniert fest und nahm sich vor,
nach Norderstedt zu fahren.
Lüder hatte geglaubt, in einer Dreiviertelstunde in
der Stadt an Hamburgs nördlicher Peripherie zu sein. Er brauchte die doppelte
Zeit. Warum wird ständig in Neumünster gebaut?, fragte er sich. Dann schweiften
seine Gedanken zu seinem Zielort ab. Norderstedt war eine noch relativ junge
Stadt und aus mehreren historisch gewachsenen alten Orten künstlich
zusammengesetzt. Seither bemühten sich die Verantwortlichen, der Stadt ein
Profil zu geben. Durch zahlreiche Investitionen in die Infrastruktur und den
Bau einer »Neuen Mitte« war das nur unzureichend gelungen. Zu sehr erdrückte
die Metropole Hamburg das Gemeinwesen, sodass sich eine für die Größe der Stadt
angemessene Eigenständigkeit nicht recht hatte entwickeln können. Das lag zum
Teil sicher daran, dass viele Einwohner aus Hamburg hierhergezogen waren, um
eine preiswertere Wohnung zu finden, aber sich immer noch zur Weltstadt
orientierten. Vielleicht war auch ein Grund, dass die mehr als siebzigtausend
Einwohner von der fernen Kreisstadt Bad Segeberg »regiert« wurden, die mit
ihrem ein wenig verschlafenen Kleinstadtambiente doch relativ abseits lag.
Die Rathausallee war ein städtebauliches
Vorzeigeprojekt. Ein breiter, mit Bäumen bepflanzter Mittelstreifen lockerte
das Areal ebenso auf wie
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