Todesküste
Schaden kommt.«
»So wie Sie in der Vergangenheit bereits zwei Mal
Opfer von Übergriffen waren?«
»Geschenkt.« Holl winkte ab. »Das war nicht schlimm.
Sie treffen immer wieder auf Leute, die das nicht verstehen wollen, wofür wir
eintreten.«
»Was ist das?«, fragte Lüder.
»Dazu muss man die Vorgeschichte kennen. Meinen
Großvater haben sie in den Krieg geholt, als er schon über vierzig war. Er war
Unteroffizier bei der Artillerie. Vierundvierzig hat ihm eine Granate das Bein
zerfetzt. Davon hat er sich nicht wieder richtig erholt. Auch mangelte es an
ausreichender ärztlicher Versorgung. Jedenfalls ist er neunundvierzig
gestorben. Ich muss dazu sagen, dass wir aus Anklam in Vorpommern stammen. Mein
Vater musste in den letzten Kriegstagen als Sechzehnjähriger an der Weichsel in
einen Graben und sollte die Russen aufhalten, während die Bonzen Richtung
Westen flüchteten. Er hat keinen einzigen Schuss abgegeben, dafür aber neun
Jahre in einem Lager in Sibirien zugebracht. Ich war gerade drei Jahre, als er
gestorben ist. Sie sehen, der ganze Widersinn des Krieges hat meine Familie
erfasst. Deshalb habe ich mich damals in der DDR nicht nur gegen den Faschismus engagiert, sondern auch den Dienst in der
Volksarmee verweigert. Vier Jahre Bautzen hat mich das gekostet.« Holl zupfte
am Revers seines grauen Anzugs. »Und das hier. Mit einer solchen Einstellung
machen Sie keine Karriere. Weder damals in der DDR noch nach der Wiedervereinigung. Sie sehen selbst, was daraus geworden ist.«
»Und für Ihre Überzeugung werden Sie angefeindet und
von unbekannten Anrufern behelligt?«
Herbert Holl nickte resigniert. »So ist es. Die
Unbelehrbaren wird es immer geben. Aber dafür stehe ich mit meiner christlichen
Überzeugung. Irgendwann müssen die Menschen anfangen zu verstehen, dass sie
sich nicht gegenseitig umbringen dürfen.«
»Haben Sie Kinder?«
»Nein«, antwortete Holl rasch.
Lüder holte eine Fotografie von Steffen Meiners hervor
und legte sie auf den Tisch. »Kennen Sie den Mann?«
Holl betrachtete eingehend das Bild. »Nein. Nie
gesehen. Wer soll das sein?«
Statt einer Antwort legte Lüder eine Ablichtung des
unbekannten Husumer Mordopfers auf die Tischplatte. »Und den hier?«
Herbert Holl warf einen kurzen Blick darauf und schob
dann beide Fotos wieder zu Lüder zurück. »Auch nicht.«
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen, und ein
schlanker Mann mit blütenweißem Hemd und kanariengelbem Sakko steckte den Kopf
herein.
»Ach, hier stecken Sie, Holl. Es geht nicht, dass Sie
sich außerhalb der Pausen zurückziehen. Hinten, an der Rolltreppe beim
Supermarkt, lungern ein paar Jugendliche herum. Die Kunden könnten sich gestört
fühlen. Sorgen Sie für Ordnung.«
Holl stand auf.
»Mach ich, Herr Griesmayr«, sagte er und ergänzte, als
der Mann wieder verschwunden war: »Der Centermanager. Entschuldigung. Sie sehen
es ja selbst.«
Lüder überreichte Holl seine Visitenkarte. »Falls
Ihnen noch etwas einfällt, würde ich Sie bitten, mich anzurufen.« Ohne einen
Blick auf die Karte zu werfen, steckte der Mann sie in seine Jackentasche.
»Mach ich«, antwortete er.
Auf der Rückfahrt nach Kiel hatte Lüder eine CD eingelegt und hörte »Best of Chris
Rea«. Er konnte nicht sagen, ob es der erneute Stau bei Neumünster oder die
zwei Morde und die vielen ungeklärten Fragen waren, die ihn nachdenklich werden
ließen, als der Sänger mit der rauen Stimme bei »The Road to Hell« angekommen
war.
Kiel ist eine vielseitige Stadt. Besucher aus aller
Welt erfahren es während der Kieler Woche, und die Einheimischen haben das
Privileg, auch den Rest des Jahres von dem auf den ersten Blick spröde
Wirkenden zehren zu können. Doch heute zeigte sich die Schöne in einer Weise,
die Lüder nicht zu schätzen wusste. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt,
und so huschte er mit großen Schritten vom Parkhaus zu dem Bürogebäude, in dem
seine Dienststelle untergebracht war. Auf halbem Weg meldete sich eines seiner
Handys. Am Klingelton erkannte er, dass es das private Mobiltelefon war. Er
fingerte das Gerät aus den Tiefen seiner Tasche, warf einen schnellen Blick auf
das Display und sah, dass der unbekannte Anrufer seine Kennung unterdrückt
hatte.
»Lüders.« Seine Stimme klang vom Dauerlauf ein wenig
atemlos.
»Bleibt Ihnen die Luft weg?« Ein überhebliches Lachen
folgte. Der Mann sprach akzentfreies Deutsch. Seine Worte waren ruhig gesetzt.
Er hatte eine angenehme, wohlklingende Stimme.
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