Todesküste
Erika«, wer auch immer das sein mochte. In einem
zweiten Ordner gab es Excel-Arbeitsblätter, in denen Holl oder seine Frau
akribisch Buch über die Haushaltseinnahmen und -ausgaben des Ehepaares führte.
Von den Gehältern über Daueraufträge bis hin zu Auszahlungen an Geldautomaten
waren alle Vorgänge sauber aufgezeichnet. Die beiden mussten ein sorgfältig
organisiertes Leben führen, denn von den nicht üppigen Einkünften blieben zum
Monatsende nur wenige Euro übrig.
»Hast du Kontoauszüge gefunden?«, fragte Lüder über
die Schulter.
»Ja, zwei Girokonten und ein Sparkonto mit knapp über
eintausend Euro Guthaben. Die Girokonten, je eines für jeden Ehepartner,
tendieren zum Monatsende immer gegen null. Erstaunlich ist, dass sie nie ins
Minus führen.«
Das deckte sich mit dem, was Lüder vorgefunden hatte.
»Hier wohnen nicht Holls, sondern die statistische
Durchschnittsfamilie«, brummte Große Jäger unzufrieden. »Man glaubt es nicht.
In den Schränken findet sich alles, was man von einem Klischee erwartet. Aber
nichts darüber hinaus. Keine Urlaubsprospekte, keine Autokataloge, keine
Korrespondenz, die über die Nichtigkeiten eines Durchschnittshaushalts
hinausgehen. Es sieht fast schon merkwürdig aus. Sogar die Fotoalben wirken
willkürlich. So stinknormal.«
Auch Lüder fand nichts weiter auf dem Computer. Keine
weitere Software, keine Spiele, keine Systemerweiterungsprogramme. Nichts. Nur
einen gebräuchlichen Virenscanner und den Internet-Browser. Bei so viel zur
Schau gestellter Normalität war es einzig auffällig, dass sich Holl Google
Earth heruntergeladen hatte. Was interessierte einen offenkundig sonst
unbedarften Internet-User an diesem Programm?
Die Erklärung dafür musste warten. Gern hätte Lüder
die Festplatte des Rechners mitgenommen und in der Kriminaltechnik von den
Computerspezialisten analysieren lassen, ob sich dort weitere Daten befanden,
die so geschickt versteckt waren, dass sie bei einem normalen Systemstart
unsichtbar blieben. Doch dazu hatte er kein Recht. So zog er alle
Verbindungskabel des Druckers und nahm das Gerät mit. Sie verschlossen die
Wohnung sorgfältig, und Lüder registrierte, dass Große Jäger im Treppenhaus
verstohlen zur Haustür der blonden Nachbarin plierte. Aber die Wohnung blieb
diesmal geschlossen.
Sie brachten die Haustürschlüssel zur Reinigung zurück
und händigten sie Frau Holl aus. Als Lüder zu seinem BMW zurückkam, sah er den Oberkommissar schon von Weitem
winken.
»Kollege Schwälm aus Itzehoe«, erklärte Große Jäger.
»Ich habe das Gespräch angenommen.« Dann sagte er laut: »Können Sie noch einmal
wiederholen?«
»Hallo«, vernahm Lüder die Stimme des Leiters der
Mordkommission. »Wir haben einen kleinen Teilerfolg. Aufgrund unseres Aufrufs in
der Norddeutschen Rundschau, dem wir ein Bild des hiesigen Mordopfers beigefügt
hatten, haben sich mehrere Zeugen gemeldet, die behaupten, den Mann zu kennen.
Wenn wir alles ernst nehmen, hat der Mann an mindestens drei verschiedenen
Stellen in der Stadt gewohnt, in einem Gesangverein mitgewirkt und einen
Dönerladen betrieben. Zwei übereinstimmende Zeugen behaupten, ihn aus ihrer
Nachbarschaft zu kennen. Demnach wohnte er in der Dietrich-Bonhoeffer-Straße.
Wir wollen uns die Wohnung ansehen.«
»Sie schicken doch zunächst die Spurensicherung hin?«,
fragte Lüder.
»Selbstverständlich.«
»Gut. Wir sind in Norderstedt und kommen direkt zu
Ihnen.« Lüder ließ sich die genaue Anschrift geben. »Bis gleich.«
Von Norderstedts Mitte führte sie der Weg über das
Autobahndreieck Schnelsen und die A23 ins Herz der Stadt an der Stör. Bis
Pinneberg herrschte lebhafter Vorstadtverkehr, bis Elmshorn war die Autobahn
überschaubar frequentiert, aber danach ermöglichten die wenigen Fahrzeuge
Richtung Norden auf der wie mit dem Lineal gezogenen Betonpiste ein rasches
Vorankommen. Es waren so wenig Autos unterwegs, dass Lüder trotz hoher
Geschwindigkeit noch Zeit fand, die vorbeifliegende stille Landschaft der
Elbmarsch mit ihren weiten Wiesen zu genießen.
Die Straße war erst seit Kurzem nach Dietrich
Bonhoeffer benannt, nachdem man den vorherigen Namensgeber mit unkritischen
Äußerungen zum Dritten Reich in Verbindung gebracht hatte. Sie lag ein wenig
abseits des Stadtzentrums in einem in sich geschlossenen überschaubaren
Wohngebiet mit Mehrfamilienhäusern.
Unweit des Endes der Sackgasse sahen sie schon von
Weitem die Fahrzeuge der Itzehoer Polizei. Die Wohnung befand sich
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