Todesläufer: Thriller (German Edition)
Vineyard erinnerte, war sauber und leer. Wie so oft, wenn er nach einer Nacht im Krankenhaus heimkehrte, war seine Tochter bereits fort. Vermutlich hatte Adam sie abgeholt. Die beiden jungen Leute waren ein hübsches Paar. Sie weckten in ihm Erinnerungen.
Er nahm die Post von dem kleinen Tisch in der Diele und zog sich nach einem kurzen Abstecher in die Küche mit einem großen Glas Apfelsaft und einem Becher Naturjoghurt in sein Arbeitszimmer zurück. Hier war er am liebsten.
Auf dem Nussbaumschreibtisch standen links und rechts der ledernen Schreibunterlage zwei Fotos. Das eine zeigte Mary und ihn in dem Jahr, in dem sie einander kennengelernt hatten, und das andere sie allein, noch mit ihren eigenen Haaren, unmittelbar vor Ausbruch ihrer Krankheit.
Es hatte ihm schon immer Vergnügen bereitet, die Post durchzusehen, selbst dann, wenn sie ausschließlich aus Mahnungen oder Werbesendungen bestand. Er trauerte ein wenig den Zeiten nach, als die Leute einander noch »richtige« Briefe geschrieben hatten. Jetzt gab es, außer gelegentlichen Familienanzeigen …
Zwischen zwei medizinischen Fachzeitschriften – er bezog ein gutes Dutzend im Abonnement – fiel ihm ein großer, brauner Umschlag ins Auge, der den vertrauten Aufdruck des St.-Luke-Krankenhauses von Houston trug, in dem er seit fast zwanzig Jahren tätig war.
Es kam nicht oft vor, dass er von seinem Arbeitgeber Post bekam.
Das Krankenhaus war sein Lebensmittelpunkt. Dort war Jenny zur Welt gekommen und Mary vor fünf Jahren gestorben. Dort hatte man ihm vor achtzehn Monaten einen neuartigen Schrittmacher eingesetzt, so dass er jetzt wieder das Herz eines jungen Mannes hatte. Seit Kurzem hatte er sogar wieder angefangen zu joggen.
Er machte es sich in seinem Sessel bequem und nahm sich den Poststapel vor. In aller Regel brachte er es nicht fertig, nach dem Nachtdienst ins Bett zu gehen. Eine Stunde, vielleicht zwei, würde er mit dem Kinn auf der Brust vor sich hin dösen. Danach fühlte er sich jedes Mal frisch genug, sich dem Tag zu stellen.
Als er an diesem Morgen die Augen wieder aufschlug, zeigte die Uhr 11 Uhr 35.
Zwei Stunden!
Offenbar ließen seine Kräfte doch allmählich nach. Die neue Herzklappe und der Schrittmacher allein reichten wohl nicht. Es war nicht zu übersehen, dass sich sein Körper nicht mit der kärglichen Ruhepause zufriedengab, die er ihm zubilligte. Seinen Patienten predigte er fortwährend, sich zu schonen. Höchste Zeit, dass er auf seine eigenen Worte hörte. »Sie sollten ein bisschen vernünftiger leben, Mr. Bates.«
Schlaftrunken öffnete er den braunen Umschlag, der, wie sich zeigte, lediglich zwei Blätter enthielt. Er überflog die wenigen Zeilen des ersten und legte dann das Ganze verblüfft auf den Schreibtisch. Mit beiden Händen massierte er sich eine gute Minute lang das Gesicht, bevor er sich das Blatt noch einmal vornahm, um gründlich zu lesen, was da stand. Das tat er mindestens drei weitere Male. Als er die Lektüre schließlich mit einem tiefen Seufzer beendete, war es bereits 11 Uhr 50.
Mit dem Mobiltelefon in der Hand ging er ins obere Stockwerk, um dort einige persönliche Dinge in einen kleinen, orangefarbenen Rucksack zu packen, den er gewöhnlich bei seinen vogelkundlichen Exkursionen um den Houston Lake nutzte: Socken, Unterwäsche, einen leichten Merinopullover, einen Deostift, einen Wegwerfrasierer und andere Kleinigkeiten. Währenddessen wählte er fünfmal dieselbe Nummer, dann gab er auf und versuchte es mit einer anderen.
Endlich meldete sich jemand.
»Büro Sheriff Blick. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, Sandra. Ist Eddy da?«
»Guten Tag, Mr. Bates. Nein. Sie wissen doch, dass er am Donnerstagmittag immer seine Golfrunde im Hermann-Park spielt.«
Acht Jahre lang hatten die beiden jeden Donnerstag um die Mittagszeit gemeinsam den kleinen, weißen Ball über den schönsten Golfplatz von ganz Houston geschlagen. Ein grünes, wunderbar hügeliges Juwel inmitten der kargen Landschaft rings um die Stadt. Als Jeremys gesundheitliche Schwierigkeiten begonnen hatten, hieß es, von den Bunkern, Birdies und Puttern Abschied zu nehmen.
Er schaltete den Lautsprecher des Telefons ein, legte es neben sich und begann sich umzuziehen. Seine Wahl fiel auf ein perlgraues Sweatshirt, eine Laufhose, weiße Frotteesocken und ein Paar so gut wie neue Turnschuhe.
»… sein Telefon hat er wohl nicht mitgenommen?«, fragte er nach einer ungewöhnlich langen Pause.
»Nein, aber ich kann ihn
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