Todesläufer: Thriller (German Edition)
würde er draußen sein.
4 UHR 00 – NEW YORK – ST. LUKE’S ROOSEVELT HOSPITAL CENTER
»Sie haben eine neue Nachricht – heute, zwei Uhr dreiundfünfzig.«
Die Stimme, die auf die Ansage folgte, klang unsicher und belegt, vor Müdigkeit, vielleicht aber auch vor Emotionen. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
»Hier Kyle Retner vom Roosevelt Hospital Center …«
Möglicherweise verdiente diese Nacht, zusammen mit der vorigen, die Krone der schlimmsten Dienste in der Laufbahn des Kardiologen. Dabei hatte er eigentlich nur schlimmste Dienste hinter sich, mit ihrer endlosen Kette von Toten, der Handvoll geretteter Leben, der Erschöpfung und der endlosen Litanei seiner Enttäuschungen. Nie genug Zeit, nie genug Mittel, nie genug Personal, um sich der Schmerzen der ungezählten unglücklichen Menschen anzunehmen.
Kann der Mann mit seinem verdammten Papierkram nicht warten? , ging es Sam Pollack durch den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll … Es wäre sicher besser, wenn Sie kurz hier vorbeikämen. Ich erwarte Sie. Es ist … es ist ziemlich dringend.«
Ziemlich dringend? Was konnte bei einer Leiche dringend sein? Was rechtfertigte es, ihn so aus seiner Trauer zu reißen? Besser gesagt, aus seiner ganz eigenen Art, die Trauer zu durchleben: die ganze Nacht draußen auf der Straße, die Glock auf der Hüfte, wie es beim NYPD üblich war. Mit der Waffe, aber ohne Tränen.
Um 2 Uhr 53 … Das heißt, mehr als zweieinhalb Stunden, nachdem Grace offiziell für tot erklärt worden war. Und schon länger als eine Stunde her. Sie hatten einen Umweg zu Bentons Auto machen müssen, um Liz’ Sectera aufzuladen, das in den letzten Zügen lag, damit er das Ende der Nachricht abhören konnte. Darin bestand der Vorteil, dass allen Bundesbeamten ein und dasselbe Smartphone-Modell zur Verfügung stand: Man konnte sich einfach das Ladegerät eines Kollegen ausleihen und hatte damit nur äußerst selten einen völlig leeren Akku.
Bestimmt hatte Retner nicht sofort daran gedacht, ihn unter dieser Nummer anzurufen. Wahrscheinlich hatte er sich vorher die Finger wund gewählt, um ihn über sein altes Nokia zu erreichen, dessen Akku schon lange erschöpft gewesen war.
Wovon hängt die Weiterleitung einer Nachricht ab? Davon, ob man ein mehr oder weniger neues Telefon hat? Von einem Akku, der länger oder nicht so lange durchhält? Von einer Techniklücke zwischen zwei Geräten?
Auf dem Weg zum Roosevelt – Benton hatte sich bereit erklärt, ihn dort abzusetzen – ging Sam in Gedanken die düstersten Möglichkeiten durch.
Sie ist … sie ist nach dem Herzstillstand explodiert? War es das, was Retner ihm zeigen wollte? Seine Tochter in Fetzen, ein durch den Sprengstoff in Stücke gerissener Haufen Fleisch? Was konnte es Schlimmeres geben als …?
Er verscheuchte das Bild, so rasch er konnte, doch es kehrte beharrlich immer wieder, drängte sich in seine Erinnerungen. Grace und Mike, ein junges Pärchen wie so viele. Grace mit ihrem ständigen leichten Übergewicht. Grace und ihre Rundungen, die vollen Wangen, der Babyspeck an den Armen … ihr vorgewölbtes Bäuchlein wie bei einem kleinen Mädchen. Grace und ihre cherubingleiche Anmut.
Ob sie schwanger ist?
»Ich heiße Sam Pollack und …«
Im Vestibül des Roosevelt fasste er nach dem Arm der blonden Krankenschwester. Mit einem matten Nicken bedeutete sie ihm, dass sie ihn erkannt hatte und er ihr folgen solle.
»Ich weiß, wer Sie sind. Kommen Sie mit.«
Retner empfing ihn an der Aufzugtür. Er sah ebenso sonderbar aus, wie seine Stimme am Telefon geklungen hatte. Er, der eine ganz bestimmte Art der Autorität verkörperte, die der triumphierenden Wissenschaft und der vielen Jahre, die er Seite an Seite mit dem Schmerz verbracht hatte, war verlegen. Indiana Jones , nackt und hilflos.
»Ich könnte Ihnen sagen, dass ich so etwas noch nie gesehen habe, aber das wäre falsch. Ich habe es tatsächlich schon drei- oder viermal gesehen.«
»Was?«
»Der Unterschied«, fuhr der Chirurg fort, ohne auf seine Frage einzugehen, »besteht darin, das will ich nicht verhehlen, dass ich nicht eine Sekunde lang geglaubt hätte, es könnte funktionieren … Sie wissen, wie das ist … Man verbietet sich den Gedanken, hofft aber trotzdem ein bisschen. Und dann, tatsächlich …«
»Verdammt noch mal, Retner, können Sie nicht mit Ihrem verqueren Geseire aufhören und mir sagen, was …«
»Sie lebt … Grace lebt.«
Von dem, was der Kardiologe
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