Todesläufer: Thriller (German Edition)
mit der vom Protokoll und der überholten Etikette diktierten Abschottung vom Wahlvolk. Doch im Laufe der Zeit … hatte er alles genauso gemacht wie die Präsidenten vor ihm. Er hatte seine Vorsätze wie auch seinen persönlichen Geschmack hintangestellt und sich weitgehend den in seiner neuen Umgebung herrschenden Gepflogenheiten angepasst.
Indem er die berechtigten Erwartungen derer enttäuschte, die auf mehr Transparenz gehofft hatten, verhielt er sich in gewisser Weise schlimmer als Bush, Clinton und andere seiner Vorgänger. Man nahm an ihm eine Distanz wahr – manche nannten es »Kälte« –, für die er eines Tages würde zahlen müssen. Das war ihm bewusst.
»Liebe Mitbürger. Ich stehe vor Ihnen, um voll Schmerz und innerer Sammlung eines der tragischsten Vorfälle in der Geschichte unseres Landes zu gedenken. So wie Ihnen ist auch mir der 11. September 2001 in unauslöschlicher Erinnerung. So wie Sie sehe ich noch deutlich vor mir …«
»Stan, wenn Sie gestatten … packen Sie da lieber nicht zu viel Pathos rein. Höchstens ein dramatisierendes Wort pro Satz. ›Schmerz‹ und ›tragisch‹ ist zu viel für den Anfang. Damit verderben Sie den Leuten den Appetit aufs Abendessen!«
Der Stabschef Adrian Salz, der dem Präsidenten ins Wort gefallen war, gehörte zu den wenigen Menschen in seinem Umfeld, die ihn mit Vornamen anreden durften.
»Finden Sie? Es muss aber doch zumindest staatsmännisch klingen. Hier geht es nicht um den Anstoß zum Endspiel der Football-Profiliga, sondern um die Einweihung des Mahnmals für die vielen Opfer des Anschlags auf das World Trade Center, Addy!«
»Ganz meine Meinung«, stimmte der amtierende Vizepräsident Robert Harris zu. »Wenn diese Ansprache nicht von Mitgefühl trieft, sollte sie besser in der Schublade bleiben. Ich gestatte mir, Sie darauf hinzuweisen, Adrian, dass es nur noch sechsundfünfzig Tage bis zur Wahl sind. Und Sie dürfen mir glauben: Wendell wird bei seinem Auftritt in New York garantiert ordentlich auf die Tränendrüse drücken.«
»Sie vergessen wohl seinen taktlosen Schnitzer im Zusammenhang mit der Moschee am Park Place«, hielt ihm Salz entgegen, der zugleich Wahlkampfleiter des Präsidenten war, »nur zwei Straßen vom World Trade Center entfernt. Mit seiner rückhaltlosen Unterstützung dieses Vorhabens hat er es sich mit einem großen Teil der Wählerschaft in seiner eigenen Stadt verdorben. Als Bürgermeister New Yorks müsste die Wahl für ihn dort ein Heimspiel sein, doch jetzt hat er sich mit einer schweren Hypothek belastet.«
»Sie meinen die … jüdischen Wähler?«
»Immerhin rund eine Million Stimmen, Robert«, gab der andere steif zurück. »Wenn Sie glauben, dass er oder wir es uns leisten können, auf sie zu verzichten, wünsche ich Ihnen am Wahltag viel Vergnügen.«
Die beiden Männer konnten einander nicht ausstehen. Das lag nicht nur daran, dass beide um die Gunst des Präsidenten buhlten, sie waren in jeder Hinsicht gegensätzliche Typen. Harris mit seiner grauen Löwenmähne, der stets den Ring seiner Studentenverbindung aus Harvard am Finger trug, stand für die weiße, protestantische Oberschicht, die alte Garde der Demokraten. Der gut zwanzig Jahre jüngere, dynamische Salz, die graue Eminenz im Hintergrund, war Jude und durch die Dotcom-Blase Ende der neunziger Jahre zu viel Geld gekommen. Zwei Welten, zwei Epochen.
»Wann findet Wendells Auftritt statt?«, erkundigte sich der Präsident knapp.
»Morgen am späten Vormittag«, gab Salz wie aus der Pistole geschossen zurück.
»Also vor meiner Ansprache am Mahnmal. Da bleibt immer noch Zeit, die eine oder andere Einzelheit zu ändern, je nachdem, was er sagt.«
Er wedelte mit dem Redemanuskript in der Luft.
»Genau. Und auch, bevor er Sie am Luftwaffenstützpunkt McGuire empfängt. Die Landung dort ist für 15 Uhr 30 vorgesehen.«
»Ist diese Begegnung unbedingt nötig?«
»Sie brauchen ihm nur die Hand zu schütteln, Stan. Ich habe dafür gesorgt, dass keine Kameras zugegen sind.«
»So kurz vor der Wahl können wir nicht damit punkten, wenn wir den Eindruck erwecken, unhöflich miteinander umzugehen«, pflichtete ihm Harris widerwillig bei. »Im Hintergrund über ihn vom Leder zu ziehen, ist in Ordnung, aber nach außen hin müssen wir so warm und herzlich erscheinen wie nur möglich. Falls Wendell die Absicht haben sollte, mit uns zu knutschen, knutschen wir eben mit!«
Robert Harris’ Angewohnheit, den Plural zu verwenden, wenn er über die
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