Todesläufer: Thriller (German Edition)
Leben in Würde, Eintracht und der Achtung vor unserer Verfassung führen zu können.«
»Bevor wir unser Gespräch fortsetzen, sollten wir uns einige Aufnahmen ansehen, die vor weniger als einer Stunde entstanden sind.«
Die kurze Reportage zeigte eine Straßenumfrage, bei der sich Passanten besorgt über eine breite Welle möglicher Attentate äußerten. Manche erklärten, sie hätten damit begonnen, Vorräte anzulegen, weil sie sich zu Hause verschanzen wollten, bis die Sache vorüber sei. Es handelte sich genau um die Art Reportage, die dazu angetan ist, Ängste zu schüren und Panik zu verbreiten.
»Was sagen Sie dazu, Herr Bürgermeister?«
»Ich denke, man muss einen klaren Kopf bewahren. Amerika wird angegriffen, das ist eine erwiesene Tatsache. Doch bis zum Beweis des Gegenteils haben wir keinen Grund anzunehmen, dass wir uns im Belagerungszustand befinden.«
»Sie sind also der Ansicht, dass die für morgen und übermorgen vorgesehenen Gedenkfeiern hier in New York und an anderen Orten des Landes stattfinden sollen?«
»Was mich betrifft, bin ich zurzeit noch entschlossen, die Abendgesellschaft nicht abzusagen, die für morgen am neuen Mahnmal für die Toten des World Trade Center geplant ist. Die für morgen Nachmittag vorgesehene große Parade in den Straßen von New York sollte man aber wohl besser auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Und ich bitte meine Kollegen in Los Angeles, Chicago, Washington und andernorts, es ebenso zu halten.«
»Und was ist mit der für Dienstagvormittag angesetzten Einweihung des One World Trade Center? Bleibt es dabei, oder wird die feierliche Eröffnung des Turms verschoben?«
»Darüber stehen wir noch in Verhandlungen mit dem Weißen Haus.«
12 UHR 15 – NEW YORK – COLUMBIA-UNIVERSITÄT
Die Bänke. Schwere gusseiserne Seitenteile und Sitzflächen aus Holz.
Die Laternen. Ein nostalgisches Modell, eine Mattglashalbkugel mit Metallabdeckung auf einem grünspanfarbenen kannelierten Lichtmast.
Das Pflaster. Ein einfaches Backsteinpflaster ähnlich dem des Hauptquartiers, in Gehrichtung verlegt.
An all das würde er sich erinnern, solange er lebte. Wie eine Miniaturausgabe von Police Plaza. Wenn er den Anblick des Blutes, der zerfetzten Leiber und der im Umkreis von mehreren Dutzend Metern verstreuten menschlichen Überreste längst vergessen haben würde, wären ihm diese Bänke, Pflastersteine und Laternen nach wie vor im Gedächtnis. Eine leere Bühne, von der man die Toten beiseitegeräumt und das Unerträgliche abgewaschen hatte.
Über zwei Jahre lang war er jeden Dienstagabend – auf Kosten der New Yorker Polizeibehörde – in den achten Stock von 1 PP zu einem Psychiater gegangen, einem Kerl mit einschläfernder Stimme, der durchdringend nach den Mentholpastillen roch, mit denen er den Geruch seines Warzenschweinatems überdeckte.
»Sagt Ihnen der Begriff Hypermnesie etwas, Sam?«
»Das ist, wenn man sich an alles erinnert …«
»Nicht unbedingt an alles. Er bedeutet eher, dass bestimmte Erinnerungen so lebendig sind, als hätten die Ereignisse, zu denen sie gehören, gerade erst stattgefunden.«
»Und ich leide, Ihrer Ansicht nach, an Hypermnesie?«
»Ich denke ja, aber in einer ganz spezifischen Form.«
In seinem Bericht für die Personalabteilung des NYPD hatte er das als »atypische Variante des Targowla-Syndroms« bezeichnet. Diese durch belastende Ereignisse ausgelöste und auch als Kriegsneurose bezeichnete Störung war charakteristisch für Menschen, die Todeslager überlebt hatten, darüber hinaus aber auch allgemein für solche, die Zeugen von Massentötungen geworden waren.
»Eins allerdings verwirrt mich bei Ihnen, Captain«, hatte ihm der Seelenklempner nach mehreren Sitzungen mitgeteilt. »Es besteht nämlich ein grundlegender Unterschied zwischen dem, was Sie im Jahre 2001 erlebt haben, und dem, was KZ -Häftlinge mitgemacht haben.«
Mit trockenem Humor hatte Sam gefragt: »Weil ich nicht Jiddisch spreche?«
»Wie ich dem Bericht Ihrer Behörde und Ihrer eigenen Aussage entnehme … haben Sie nicht das Geringste mit eigenen Augen gesehen.«
Bei seinem Eintreffen an Ground Zero war das Schlimmste schon vorüber. Die meisten Toten, die sich überhaupt bergen ließen, hatte man bereits aus den rauchenden Trümmern des Riesenbaus geholt. Debby war nicht dabei gewesen.
Doch seine Erinnerung beschäftigte sich unaufhörlich mit all dem, was ihm erspart geblieben war.
»Ich habe tatsächlich nichts gesehen …«, bestätigte
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