Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
verschlossenen Türen stehen. Plötzlich wurde eine geöffnet, und eine gestresste Krankenschwester stürmte in Richtung der Aufzüge. Estrid wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und beeilte sich, die Tür zu erreichen, bevor sie zufiel. Falls jemand sie dabei ertappen sollte, wie sie sich Zugang zur Station verschaffte, könnte sie sich jederzeit ein wenig verwirrt geben, überlegte sie. Wie eine alte Frau auszusehen hatte trotz allem seine Vorteile. Es war die perfekte Verkleidung, abgesehen davon, dass es gar keine Verkleidung war. Estrid seufzte. Sie war schließlich eine alte Frau. Eine alte Frau, die gerade dabei war, sich mitten in der Nacht Zutritt zu einer Pflegestation zu verschaffen.
Ein Stück entfernt, dort wo der Korridor nach links abbog, konnte sie das Licht aus dem Schwesternzimmer sehen. Estrid hörte, wie jemand am anderen Ende des Korridors etwas sagte. Sie schlich sich zum erleuchteten Zimmer mit den großen Glasfenstern, die auf den Korridor wiesen. Kein Personal war zu sehen. Alle waren vermutlich mit Patienten beschäftigt, die Hilfe benötigten. Das Schwesternzimmer war abgeschlossen, doch was Estrid suchte, hing zur allgemeinen Einsicht im Fenster. Es war ein Belegplan mit den Zimmern der Station und den Namen der Patienten, die darin untergebracht waren. Lediglich unter einer Zimmernummer stand kein Name. Zimmer 14. In der Zeile stand nur »geschützte Identität«. Estrid erinnerte sich daran, dass sie damals als Patientin von den Krankenschwestern gefragt worden war, ob sie ihre Anwesenheit bekannt geben durften, falls jemand danach fragte. Offenbar handelte es sich dabei um eine Routinefrage, die allen eingelieferten Patienten gestellt wurde. Die meisten hatten bestimmt keine Einwände dagegen, dachte Estrid. Doch zu dieser Gruppe würde sich Frau Liedenburg-Rossing nicht gesellen. Niemand durfte erfahren, dass sie auf der Station lag. Estrid drehte sich um und ging in Richtung Zimmer 14.
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit. Trotz des unspezifischen Krankenhausgeruchs konnte Estrid unmittelbar ausmachen, dass sie die Tür zum richtigen Zimmer geöffnet hatte. Sie erkannte Gretes Parfüm wieder. Elegant, diskret und teuer. Genau wie die alte Frau auch. Lange stand sie am Fußende des Bettes und betrachtete Grete. Der fragile Brustkorb der alten Dame hob und senkte sich ruhig. Sie schlief friedlich. Estrid wusste, dass es jetzt an ihr war, sich für ihre Freundin einzusetzen. Wenn auch nicht in der Art und Weise, wie Grete es für Estrid getan hatte, dann doch zumindest so, wie sie es abgesprochen hatten. Sie holte tief Luft.
Die Misshandlung mit der aufgeplatzten Augenbraue war noch nicht länger als eine Woche her, als Alfred sie erneut angegriffen hatte. Auf ihrer Stirn klebte noch immer ein Pflaster, und sie humpelte beim Gehen. Pflichtbewusst war Estrid bereits am Tag nach der ersten Misshandlung wie immer zur Arbeit gegangen. Grete hatte Estrid sofort zur Seite genommen und das Pflaster abgezogen, das die eigenhändig genähte Wunde bedeckte. Sie erinnerte sich noch an jedes Wort, was gesagt wurde. Grete war ungeheuer wütend gewesen. Zwischen zusammengebissenen Zähnen hatte sie fauchend gefragt:
»Ist er jetzt zu Hause?«
Estrid hatte nicht gewagt, den Mund zu öffnen, sondern zur Antwort lediglich genickt.
»Übernachten Sie hier in Ihrem alten Zimmer, bis er die Stadt wieder verlässt. Dann fahren Sie zurück und packen Ihre Sachen.«
Estrid hatte versucht, Grete zu unterbrechen, doch ihr Protest war verstummt, als sie den Zorn in Gretes Blick erkannte.
»Wenn Sie Ihre Sachen gepackt haben«, erklärte Grete und erhob ihre Stimme, »werden Sie nie wieder dorthin zurückkehren. Haben Sie das gehört?«
Erneut hatte Estrid erschrocken genickt. Es blieb überhaupt kein Raum für eine Diskussion. Eine Woche war ohne Zwischenfälle vergangen. Alfred hatte nichts von sich hören lassen, während Estrid jeden Abend neue Strümpfe und Unterwäsche in ihrem alten Zimmer vorfand. Grete hatte ihr verboten, die Wohnung zu verlassen, und die Einkäufe für den Haushalt selbst übernommen. Als der Tag kam, an dem Alfred wieder in See stechen würde, durfte Estrid sich schließlich auf den Weg machen. Sie nahm den Bus zum Hafen. Die Frau, die ihr die Wohnung vermietet hatte, musterte sie abschätzig. Sie stand oberhalb von Estrids und Alfreds Wohnung im Treppenhaus.
»Aha, jetzt behagt es Madame also, wieder zurückzukommen«, sagte sie.
Im selben Augenblick, als
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