Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
habe ihn von meiner Mutter.«
»Oh.«
Christopher klang eigentlich nur pflichtschuldig betroffen.
»Und dabei habe ich den Brief doch extra an Freddies Arbeitsplatz geschickt.«
Ella erzählte ihm von der Reinigung, die sich um die Wäsche des Haushalts gekümmert hatte, und wie der Brief schließlich in Judits Hände gelangt war.
»Meine Mutter hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass er eine Geliebte in Paris hatte«, verdeutlichte Ella.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie hielt inne und schwieg eine Weile.
»Freddie wollte nie jemandem wehtun«, sagte Christopher etwas abwartend.
Ella wurde aus ihren Gedanken gerissen. Es war, als hätte Christopher sie gelesen. Er fuhr fort, ohne eine Reaktion von Ella abzuwarten.
»Zu mir sagte er, dass er sich nie ein anderes Leben gewünscht hätte als das, das er mit Ihnen und Ihrer Mutter lebte. Er war der Meinung, all das erreicht zu haben, was er jemals wollte.«
Christopher klang ernst und aufrichtig.
»Aber obwohl er alles hatte«, fuhr Christopher fort, »war Freddie unglücklich. Am Anfang schien ihm eine innere Stimme zuzuflüstern, dass er nicht in die Welt gehörte, in der er lebte. Mit der Zeit wurde dieses Flüstern zu einer lauten Stimme. Eine Stimme, die er viele Jahre lang ignoriert hat.«
Ella hörte zu. Sie wünschte sich plötzlich, ebenfalls eine Person gehabt zu haben, mit der sie so sprechen konnte, wie ihr Vater offenbar mit Christopher hatte sprechen können.
»Als ich Freddie traf, nahm ich die Neugier in seinem Blick wahr. Ich arbeitete damals als Dolmetscher bei einer Verhandlung hier in Paris, während Freddie eine Art Berater einer der Parteien war. Ich sah, wie er beschämt wegschaute, sobald ich seinem Blick begegnete. Er verbarg es zwar, so gut er konnte, aber da war etwas zwischen uns, was ich nicht beschreiben kann. Freddie hat später einmal gesagt, dass er es empfand, als sei er nach Hause gekommen. Wenn wir zusammen waren, gab es schlicht und einfach zu viel Richtiges und zu wenig Falsches, wie er es oft ausdrückte.«
Ella rannen die Tränen die Wangen hinunter. Christophers Worte bohrten sich ihr geradewegs ins Herz. Es war, als würde ihr Vater aus dem Grab zu ihr sprechen.
»Wenn die Seele etwas nicht länger aushält«, fuhr er fort, »begehrt sie auf. Die Stimme wird zu einem Schrei und fordert Konsequenzen.«
Er verstummte kurz, bevor er hinzufügte:
»In diesem Stadium entscheiden sich nicht alle für das Leben.«
Seine Stimme war sachlich, hörte sich jedoch brüchig an.
»Ich glaube, dass mein Vater sich trotz allem für das Leben entschieden hat«, entgegnete Ella.
Sie tat ihr Äußerstes, damit er nicht merkte, dass ihr die Tränen in den Augen standen.
»Es gibt so vieles, was ich Ihnen gerne erzählen möchte«, sagte Christopher nachdenklich, »aber ich kann nicht. Jedenfalls nicht jetzt.«
»Ich weiß«, antwortete Ella.
Als sie auflegte, war ihre Müdigkeit wie weggeblasen, sodass ihr der Versuch, wieder einzuschlafen, keine angemessene Alternative zu sein schien. Stattdessen stand sie auf und kochte sich ein Tasse Tee. Sie saß da und blätterte planlos in den Vorschlägen, die die Innenarchitektin für die Renovierung der Küche erstellt hatte. Dabei handelte es sich nicht um Skizzen, sondern eher um fotoähnliche Farbausdrucke, die eine spektakuläre Küche nach der anderen zeigten. Auf Ellas Wunsch hin hatte die Architektin auch einen eher klassischen Entwurf gemacht. Dieser Vorschlag schien ihr am besten in die Wohnung zu passen. Sie schob die Unterlagen von sich und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Das Telefonat mit Christopher hatte stärkere Gefühle in ihr geweckt, als sie erwartet hätte. Er hatte genau die Fragen angesprochen, über die sie am meisten nachdachte. Das Gespräch hatte nicht länger als ein paar Minuten gedauert, und doch hatte sie einen Eindruck davon bekommen, was ihrem Vater in der Zeit vor dem Brand durch den Kopf gegangen war. Ella hätte Christopher gerne eine Menge weiterer Fragen gestellt, hatte sich jedoch zurückgehalten und akzeptiert, dass er im Augenblick entweder nicht mehr erzählen konnte oder wollte. Im Hinblick auf all das, was sie beschäftigte, war es nicht leicht gewesen.
Der Gedanke, der ihr während des Telefonats gekommen war, hatte sich mit der Frage beschäftigt, was Menschen bereit waren zu tun, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben und sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, was andere über sie denken würden. Sie hatte an
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