Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
spürte sie, dass ihr die Zeit davonlief und die Gefahr bestand, dass ihr die Gelegenheit entglitt. Ella hegte den Verdacht, dass nicht nur ihr Vater in diesem Frühjahr vor über dreißig Jahren ein doppeltes Spiel gespielt hatte. Eigenartigerweise schienen jedoch alle Doppelspiele den gemeinsamen Nenner gehabt zu haben, Frederick auf die eine oder andere Weise unter die Erde zu bringen. Ella war inzwischen davon überzeugt, dass Ernst und Grete von dem inszenierten Tod ihres Vaters gewusste hatten. Die Frage war nur, wer darüber hinaus noch eingeweiht war. Arne Erlandsson? Klaus Hoffman? Waldemar? Offenbar war es ihnen gelungen, Hugo außen vor zu halten, aber Ella war sich nicht ganz sicher, was Judit wusste.
Sie zog den Stöpsel aus der Wanne und blieb sitzen, bis alles Wasser abgelaufen war. Obwohl sie keine tieferen Gefühle für ihre Mutter hegte, verspürte sie gewisse Skrupel, sie den Dingen auszusetzen, die auf sie zukamen.
*
Viele ältere Menschen klagten über Schlafstörungen. Von diesem Übel war Estrid jedoch viele Jahre verschont geblieben. Sie pflegte im Scherz zu sagen, dass sie nun all die Jahre nachholte, in denen sie in ihrer Zeit als Haushälterin früh aufgestanden und spät zu Bett gegangen war. Sie würde über hundert Jahre alt werden müssen, um all den Schlaf aufzuholen, den sie versäumt hatte. Dennoch hatte sie in den vergangenen Nächten zunehmend schlecht geschlafen. Sie ging extra spät schlafen, wachte jedoch, bereits einige Stunden nachdem sie zu Bett gegangen war, allein mit ihren Gedanken an die Vergangenheit wieder auf. Sie ließen ihr einfach keine Ruhe. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu ihrer ehemaligen Arbeitgeberin und Ella, in deren Stimme sie so viel Überzeugung wahrgenommen hatte. Ella hatte ihr zwar nicht besonders viel erzählt, aber das war auch nicht nötig gewesen. Estrid hatte bereits früh begriffen, in welche Richtung ihr Verdacht wies, auch wenn sie sich nicht einmal in ihrer wildesten Fantasie ausmalen konnte, wie das Ganze zusammenhängen sollte. Wenn sie ehrlich war, war es auch nicht die Loyalität zu ihrer ehemaligen Hausherrin, die sie gespalten reagieren ließ. Es war die Loyalität zu ihrer Freundin. Eine Freundin, die sich in einer Art und Weise für sie eingesetzt hatte, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Eine Freundin, die gerade im Krankenhaus lag und, wenn Estrid es richtig verstanden hatte, ihre Sprache verloren hatte. Später an diesem Abend würde sie Besuch bekommen, weit nach der täglichen Besuchszeit.
Estrid wusste, dass es Grete nicht gefallen würde, von ihrer ehemaligen Haushälterin im Krankenhaus besucht zu werden. Es würde keinen guten Eindruck hinterlassen. Aber von einer Freundin – das war etwas ganz anderes. Auch wenn diese Freundin nie zuvor in den Salons gesehen worden war.
Als der Taxifahrer klingelte und ihr mitteilte, dass er draußen wartete, warf Estrid einen raschen Blick in den Spiegel im Flur und lächelte. In einem Karton im Kleiderschrank hatte sie ein schönes, wenn auch altes Kleid gefunden, das erfreulicherweise weit genug war, um ihren inzwischen etwas korpulent gewordenen Körper zu umschmeicheln. Das Kleid war lilafarben und mit einem verzierten Ausschnitt versehen; dazu trug sie einen passenden lilafarbenen Bolero mit braunem Pelzkragen. Ihre grauen Locken hatte sie unter einem Tuch verborgen, das sie unter dem Kinn knotete. Sie sah aus wie eine vornehme Dame, redete sie sich ein, während sie zum Taxi hinauswankte.
Kurz vor Mitternacht hielt das schwarze Taxi vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Sie selbst war aus persönlichen Gründen öfter dort gewesen, als sie zählen konnte. Ihr Rheuma war nicht leicht zu behandeln gewesen, und sie hatte bereits mit den meisten Ärzten Bekanntschaft gemacht, die mit Gelenkerkrankungen zu tun hatten. Doch eigentlich hatten die Behandlungen ihren Namen erst verdient, als die Medikamente der neuen Generation auf den Markt gekommen waren.
Estrid ging geradewegs am Empfang vorbei und auf die Aufzüge zu. Nach Auskunft von Judit lag Grete auf der neurologischen Station. Es gab nur zwei solche Stationen, und Estrid hatte einmal auf einer der beiden gelegen. Damals war Grete diejenige gewesen, die sie besucht hatte. Auch wenn ihr die Erinnerungen an diese Zeit glasklar vor Augen standen, konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, auf welcher Station man sie damals behandelt hatte. Sie lagen direkt nebeneinander, und Estrid blieb zögernd vor den
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