Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
weißer Blutkörperchen entdeckt, als Simon an ihrer Tür klopfte. Er trug eine dunkle Krawatte, karierte Hosen, eine dazu passende Weste und ein weißes Hemd.
»Hast du Zeit für eine kurze Frage?«, begann er vorsichtig.
Ella schaltete die Lampe im Mikroskop aus, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Sie hatte ihn immer noch nicht nach der vergrabenen Leiche gefragt, doch seine betrübte Miene ließ sie ihre Neugier zurückstellen.
»Ich muss in einer Stunde im Gericht sein«, antwortete sie stattdessen und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Ich werde mich kurzfassen«, entgegnete er und schloss die Tür hinter sich.
Ella wusste, dass Simon über seinen ausgesuchten Geschmack für Kleidung hinaus viele Eigenschaften besaß, die ihn zu einem ausgezeichneten Rechtsmediziner machten. Trotz seiner ständigen Jagd auf junge hübsche Frauen war er der umsichtigste und aufmerksamste Mensch, dem Ella je begegnet war, und vielleicht waren es sogar diese Eigenschaften, die die Frauen vor ihm auf die Knie fallen ließen. Wenn es irgendjemandem bei der Arbeit nicht gut ging, war Simon der Erste, dem es auffiel und der sich erkundigte. Er war offenbar von zu Hause ausgezogen, als er noch sehr jung war, und hatte seinen kleinen Bruder allein großgezogen. Obwohl Ella ihn als sehr nahen Freund betrachtete, hatte sie sich nie getraut, ihn zu fragen, warum er ausgezogen war. Zu seinen Vorzügen zählte allerdings nicht die Fähigkeit, sich kurzzufassen. Als Simon nach zehn Minuten gerademal dargelegt hatte, um wen es sich bei dem Verstorbenen handelte, nahm sie ihm die Unterlagen, die er in Händen hielt, ab und überflog sie rasch.
»Mir würde es auch schwerfallen, eine Arzneimittelvergiftung mit Ethylmorphin als primäre Todesursache anzugeben«, begann sie. »Natürlich ist die Konzentration unbestreitbar hoch, aber da ich noch nie zuvor jemanden infolge dieses Arzneimittels habe sterben sehen, sollte man das Ganze vielleicht intensiver prüfen.«
Sie gab ihm die Unterlagen zurück, stand auf und setzte ihren Monolog fort.
»Wenn andererseits alle Rechtsmediziner nur Todesursachen angeben würden, die allgemein bekannt sind, würde das bedeuten, dass man an neuen Medikamenten nicht sterben kann, und das wäre ein unlogischer Umkehrschluss.«
Während sie sich den Mantel anzog, folgte er ihren Bewegungen mit erstauntem Blick und wollte gerade den Mund öffnen, um ihre Schlussfolgerungen zu kommentieren, als sie mit ruhiger Stimme fortfuhr.
»Soweit ich weiß, kommt Ethylmorphin lediglich in Hustensäften vor. Wenn du bei deiner mikroskopischen Untersuchung also keinerlei Anzeichen für eine Lungenentzündung gefunden hast, musst du wohl in bahnbrechender Weise den Hustensaft als Todesursache angeben.«
Ella lächelte und ließ ihn einfach in ihrem Büro sitzen. Er konnte hören, wie sich ihre Schritte im Korridor entfernten. Es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung ihrer Worte bei ihm angekommen war. Auch wenn es ihn leicht irritierte, dass sie so schnell den Kernpunkt seines Problems erfasst hatte, musste er doch ihre geistige Schärfe bewundern. Er stellte fest, dass zwischen ihnen gewisse Anklänge an geschwisterliche Liebe herrschten, wobei Ella die Rolle der naseweisen großen Schwester einnahm. Er stand auf und ging zurück in sein Büro. Dass der Verstorbene aus irgendeinem Grund das entsprechende Arzneimittel eingenommen haben könnte, hatte er im Eifer des Gefechts übersehen. Er musste also dafür sorgen, dass die Gewebeproben der inneren Organe, die er während der Obduktion entnommen hatte, für eine mikroskopische Untersuchung zurechtgeschnitten und präpariert wurden. Vielleicht hatte der Mann ja tatsächlich unter einer Lungenentzündung mit beschwerlichem Husten gelitten, dachte er hoffnungsvoll.
Ellas Besuch im Gericht war nach weniger als zehn Minuten beendet, da die Verteidigung keinerlei Fragen an sie hatte. Man musste schon eine Frohnatur sein, um die Zeit im Auto und vor Gericht nicht als völlig vergeudet zu betrachten. Aber Ella war keine Frohnatur. Auf der Rückfahrt vom Gericht dachte sie über eine neue Wohnung nach, und ihr Ärger über die Gerichtsverhandlung legte sich langsam. Sie machte sich klar, dass sie sich dieses Mal eine Wohnung ganz nach ihrem Geschmack würde suchen können. In einer solchen Wohnung würden auch ihre Spiegel zu ihrem Recht kommen, dachte sie zufrieden. Sie nahm den Weg an einem der ältesten Viertel der Stadt vorbei, in dem die Wohnungen eine enorme Deckenhöhe
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