Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
stellte sie den anderen vor. Die Frau hieß Anna-Lisa Win und war Kriminalinspektorin und Voruntersuchungsleiterin. Da es keinen Verdächtigen gab, war eine Polizistin und kein Staatsanwalt Voruntersuchungsleiter. Simon hatte auf dem großen Tisch mitten im Raum Fotos des Skeletts ausgebreitet. Kriminalinspektorin Win saß am Tisch und las in einem vor ihr liegenden Dokument. Daneben lag ein Farbfoto von dem halb ausgegrabenen Schädel, durch ein Auge war eine Wurzel hindurchgewachsen.
»Wie sicher können wir bezüglich der Datierung sein?«, fragte sie und richtete ihren Blick auf Simon. Er war auch an diesem Tag wie an allen anderen wieder akkurat gekleidet. Unter seinem grauen wollenen Anzug lugte ein schwarzes dünnes Polohemd hervor.
Simon erklärte, dass der Botaniker, den er um Rat gefragt hatte, ziemlich exakte Zeitangaben gemacht habe. Die einzige Fehlerquelle, die er einkalkulieren musste, bestand möglicherweise in der Anzahl der Jahre, in denen der Temperaturunterschied zwischen den Jahreszeiten zu gering war, was dazu führte, dass die Wurzeln im Sommer wie im Winter nahezu mit derselben Geschwindigkeit wuchsen. Aus diesem Grund bildeten sich in solchen Jahren keine Jahresringe.
»Das bedeutet, dass die Leiche länger dort gelegen haben könnte, als der Botaniker ausgehend von den Jahresringen der Wurzel berechnet hat«, stellte Win fest.
Sie fügte hinzu:
»Das Problem liegt in der Verjährungsfrist. Wenn ich nicht mit Sicherheit sagen kann, dass der Mord vor mehr als fünfundzwanzig Jahren stattgefunden hat, müssen wir den Fall als gewöhnliche Mordermittlung behandeln.«
»Ich dachte, die Verjährungsfrist für Mord soll verlängert werden«, wandte ihr männlicher Kollege fragend ein.
»Das ist richtig«, antwortete Win, »doch diese Änderung beinhaltet lediglich, dass man die Verjährungsfrist für die Morde verlängert, deren Frist bis dato noch nicht ausgelaufen ist.«
Ihre Antwort bestärkte Ellas Verdacht, dass die Kriminalinspektorin bereits ein abgeschlossenes Jurastudium im Rücken gehabt hatte, bevor sie an der Polizeischule anfing.
»Nach den Berechnungen des Botanikers hat die Leiche mindestens dreiundzwanzig Jahre in der Erde gelegen«, las Simon aus seinen Unterlagen vor. »Das dürfte bedeuten, dass der Mord spätestens 1987 stattgefunden hat. Aber wir können nicht sagen, wie lange die Wurzel gebraucht hat, bis sie ihren Weg durch den verwesenden Schädel gefunden hat, und in wie vielen Jahren sich keine deutlich erkennbaren Jahresringe gebildet haben«, fügte er hinzu und begegnete dabei Ellas Blick.
»Okay«, sagte Win, »dann verfahren wir so, als hätte der Mord innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre stattgefunden. Ich denke, wir haben keine andere Wahl. Was wissen wir über den Eigentümer des Grundstücks?«, fragte sie geradewegs in die kleine Arbeitsrunde.
Der männliche Ermittler wand sich ein wenig und signalisierte deutlich seinen Unmut darüber, auf seiner Karriereleiter von einer Frau überholt worden zu sein. Doch im Hinblick auf Wins Qualifikation tat er nur gut daran, sich damit abzufinden, dachte Ella und stand auf, um zu gehen. Rechtsmediziner waren nur sehr selten in die rein polizeiliche Ermittlungsarbeit involviert, und sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sich in ihre Recherchen einzumischen. Es war schließlich nicht ihr Fall.
Jetzt meldete sich endlich der männliche Ermittler zu Wort.
»Der Eigentümer des kleinen Hauses mit dem dazugehörigen Garten heißt Mikael Erlandsson. Er hat das Haus vor vier Monaten von seinem Vater Arne Erlandsson geerbt.«
Ella bekam eine Gänsehaut, als sie den Namen hörte. Sie blieb eine Sekunde lang mit der Hand auf dem Türgriff stehen. Dann drehte sie sich um und sank wieder auf ihren Stuhl. Simon warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Bin nur zu schnell aufgestanden«, sagte sie entschuldigend und bedeutete ihm fortzufahren. Sie war davon überzeugt, dass man ihr Herz durch das dicke Poloshirt hindurch würde schlagen hören. Sie musste sich anstrengen, um zu verstehen, was der Polizist sagte. Es war, als hätten sich ihre Gehörgänge verschlossen, sodass seine Stimme tief und schleppend klang.
»Der Sohn Mikael war 1987 achtundzwanzig Jahre alt und wohnte zu der Zeit in einer anderen Stadt, stattete seinem Elternhaus jedoch hin und wieder einen Besuch ab. Arne Erlandsson wohnte seit 1954 in dem Haus. Er arbeitete fast zwanzig Jahre lang als Hausmeister im Krankenhaus und wurde 1976 pensioniert.
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