Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
vielleicht im Zusammenhang mit dem Abschneiden des Seils verletzt wurde.
Ella suchte resolut die Unterlagen heraus und stellte fest, dass die Ergebnisse der chemischen Analyse eingetroffen waren. Es befand sich eine sehr geringe Menge Alkohol im Blut des jungen Mannes, aber keine Spuren von Medikamenten oder Drogen. Bei einer so schwachen Alkoholkonzentration konnte man außerdem nicht ausschließen, dass er sich als Folge chemischer Reaktionen bei der beginnenden Verwesung erst nach dem Tod gebildet hatte.
Sie wählte die Nummer des Polizisten, der den Unterlagen zufolge die Obduktion angeordnet hatte. Der Mann am anderen Ende der Leitung klang erstaunt, als sie sich meldete. Leider betreute selten ein und dieselbe Person einen Fall von Anfang bis zum Ende, und so konnten die Beamten auch nicht viel Erfahrung sammeln. Mit wenigen Ausnahmen blieben die Polizisten, die in routinemäßigen Todesfällen ermittelten, selten länger als ein paar Monate auf ihrem jeweiligen Posten, was dazu führte, dass Ella oft mit Menschen reden musste, die noch nie zuvor in einem Todesfall ermittelt hatten. Da der betreffende Polizist auch nicht mehr über den Fall wusste als das, was Ella selbst im vorläufigen Bericht vom Fundort lesen konnte, bat sie ihn, den Kollegen vor Ort ausfindig zu machen und ihn zu bitten, sie umgehend anzurufen.
Eine Viertelstunde später wurde sie von einem gewissen Jonny Duda aus der Kriminaltechnikabteilung angerufen. Sie war ihm bereits an mehreren unterschiedlichen Fundorten begegnet und hatte ihn als recht umgänglich empfunden. Dass Rechtsmediziner darum baten, wegen eines älteren Falls zurückgerufen zu werden, war eher ungewöhnlich, und er wirkte dementsprechend neugierig. Ella gab ihm jedoch schnell zu verstehen, dass sie lediglich an gewissen Fakten interessiert war, was nach dem Tod genau mit der Leiche geschehen war. Er schien aus irgendwelchen Notizen zu zitieren, die er sich am Fundort gemacht hatte, als er ihre Fragen beantwortete. Dem Bericht zufolge wurde das Seil vom Balken an der Garagendecke erst abgeschnitten, als Jonny und seine Kollegen eintrafen. Ella fiel ein, dass durchaus nicht alle Fundorte von Kriminaltechnikern aufgesucht wurden.
»Wie kam es eigentlich, dass Sie zum Fundort gerufen wurden?«, fragte sie deshalb.
»Tja, das hing damit zusammen, dass zwei Anrufe von derselben Nummer bei der Zentrale eingingen«, antwortete Jonny.
»Zwei Anrufe?«, fragte Ella nach.
»Die Mutter war natürlich geschockt und rief erst einmal den Notruf – das war um 15:33 Uhr –, legte dann jedoch auf, ohne etwas zu sagen. Dann rief sie um 16:49 Uhr wieder an, als sie sich etwas gesammelt hatte, um zu berichten, dass sie ihren Sohn tot in der Garage aufgefunden hätte.«
»Aber irgendwem bei Ihnen kam das Ganze doch merkwürdig vor – ansonsten hätte man Sie nicht gebeten zu kommen, oder?«, folgerte Ella.
»So in der Art«, antwortete Jonny langsam. »Und was habe ich übersehen?«, fragte er dann mit ernster Stimme.
»Überhaupt nichts«, antwortete Ella aufmunternd, »ich wollte mich nur vergewissern.«
Sie wollte das Gespräch gerade beenden, als Jonny weitersprach.
»So außergewöhnlich finde ich das mit den beiden Anrufen gar nicht. Ich würde auch kein Wort rausbringen, wenn ich gerade mein einziges Kind in der Garage hängend gefunden hätte.«
»Da haben Sie recht«, sagte sie und legte auf.
Ella fühlte sich sofort besser und beschloss, den Fall ruhen zu lassen, bis sie Zeit hätte, die Gewebeproben, die sie für die mikroskopische Untersuchung genommen hatte, zu begutachten. Bei Tod durch Erhängen fand man darin zwar ungeheuer selten etwas Interessantes, aber Ella hatte sich angewöhnt, hin und wieder Proben anzufordern. Es war eine gute Möglichkeit, Referenzmaterial anzulegen, das zeigte, wie das Gewebe bei gesunden jungen Menschen aussah. Wenn man ausschließlich Gewebeproben von Organen mit Fetteinlagerungen untersuchte, wie es zum Beispiel bei der Leber von den meisten Personen mit übermäßigem Alkoholkonsum der Fall war, besaß man nämlich die Tendenz, nach einer gewissen Zeit davon auszugehen, dass ein bestimmter Grad an Fetteinlagerung normal war. Doch in diesem Fall hatte sie die Gewebeproben aus einem ganz anderen Grund angefordert. Sie wollte die weitere Bearbeitung hinauszögern, um sie nicht unmittelbar in Angriff nehmen zu müssen.
Sie verwendete den Rest des Vormittags darauf, sich in die Literatur einzulesen, die sie über das Thema
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