Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Patienten unmittelbar zur Beurteilung einbestellt, der dann alle Kriterien erfüllt hatte, um gegen seinen Willen, aber auf der Grundlage des Gesetzes über psychiatrische Zwangsversorgung eingewiesen zu werden. Auch wenn Simon der Überzeugung war, dass sein Bruder wieder gesund werden würde, bedrückte es ihn, dass dieser jeden Besuch von ihm ablehnte.
Als Simon Ellas Büro verließ, fühlten sie sich beide etwas besser. Den Problemen eines anderen zuzuhören bewirkte oft, dass die eigenen Probleme in den Hintergrund rückten, stellte Ella fest. Zwischendurch war sie versucht gewesen, Simon ein paar Fragen zu seinem Fall mit dem vergrabenen Mann zu stellen, spürte jedoch, dass jetzt nicht der passende Zeitpunkt dafür war. Dann erinnerte sie sich an die braunen Papiertüten in Simons Regal und blieb noch ein paar Minuten im Büro, nachdem Simon das Gebäude verlassen hatte. Zu ihrer Enttäuschung konnte sie weder die Mappe mit den Unterlagen zum Fall noch die braunen Papiertüten finden. Mit leeren Händen schloss sie die feuersicheren Türen des Archivs und sorgte dafür, dass die Alarmanlage eingeschaltet war. Auf dem Nachhauseweg wählte sie Judits Nummer. Sie schenkte sich die Höflichkeitsfloskeln und kam direkt zur Sache.
»Ich komme in einer Viertelstunde vorbei und hole den Brief ab.«
Ihre Stimme ließ keinen Spielraum für eine Diskussion, woraufhin am anderen Ende der Leitung ein niedergeschlagener Seufzer zu hören war.
»Ich hinterlege ihn unten bei Adam«, entgegnete Judit resigniert.
»In Ordnung.«
Ella legte auf. Das Haus, in dem Judit wohnte, hatte zwar keinen Portier, aber der ehemalige Hausmeister wohnte noch immer im Erdgeschoss und erfüllte weiterhin in jeder Hinsicht die Funktionen eines solchen. Adam hatte mehr als vierzig Jahre in Judits Haus gearbeitet, und obwohl er fünfundsiebzig Jahre alt war, sah man ihn noch oft die Beete im Innenhof harken oder im Winter Schnee schippen. Judit war in die Wohnung gezogen, die zwischen der Stadtbibliothek und der Oper lag, als Ella ihr Studium begann. Judit hatte ihren Umzug damit begründet, dass in ihrer vorherigen Wohnung zu viele alte Erinnerungen steckten. Erinnerungen an was, hatte Ella sich gefragt. Sie waren ja erst ein halbes Jahr nach dem Brand dort hingezogen.
Ella hielt vor der Haustür. Sie hatte gerade den Motor ausgeschaltet, als jemand an die Scheibe auf der Beifahrerseite klopfte. In der Dunkelheit zeichnete sich Adams großgewachsene Silhouette ab. Sie ließ die Scheibe herunter und nahm einen großen wattierten Umschlag entgegen. Ella wünschte ihm einen schönen Abend und fuhr davon. Sie konnte sich an ihren letzten Besuch in der Wohnung ihrer Mutter nicht mehr erinnern – wahrscheinlich war es im Zusammenhang mit einem Geburtstagsfest gewesen.
Die Fahrt nach Hause dauerte länger, als sie gerechnet hatte. Als sie geparkt hatte, merkte sie, dass sie aus alter Gewohnheit zu der Wohnung gefahren war, in der Markus und sie gewohnt hatten. Sie verfluchte ihre Dummheit, aber als sie den Rückwärtsgang einlegte und sich umdrehte, blieb ihr Blick an einem der Fenster im Dachgeschoss hängen. Das Licht in der ihr wohlbekannten Wohnung war gerade gelöscht worden. Auch wenn sie nicht mehr als für den Bruchteil einer Sekunde hingeschaut hatte, wusste sie, wen sie gesehen hatte. Markus und diese Frau. Johanna. Eng umschlungen.
Ella richtete sich auf, holte tief Luft und ließ ihr früheres Leben hinter sich. Jetzt war sie offiziell ausgetauscht worden.
Als sie die kleine Tür zu ihrer Wohnung öffnete, bemerkte sie, dass der Hausmeister den Namen auf dem Türschild bereits in E. Andersson geändert hatte. Es verursachte ihr ein gutes Gefühl. Im dunklen Flur fiel ihr erneut ein, dass sie am nächsten Tag pünktlich ihren Arbeitsplatz verlassen müsste, um weitere Lampen zu kaufen. Im Kerzenschein öffnete sie vorsichtig den wattierten Umschlag. Darin befand sich ein kleiner blauer Briefumschlag. Er war adressiert an Frederick Anderson, mit einem S. Die Adresse kannte sie nicht, möglicherweise war der Brief an Fredericks Arbeitsplatz geschickt worden. Der Umschlag war fein säuberlich aufgeschlitzt, und Ella entnahm ihm vorsichtig das dünne Briefpapier. Es bestand lediglich aus einer Seite, und die Mitteilung war kurz. Das Papier war so dünn, dass der Text vermutlich geradewegs hindurchscheinen würde, wenn man es beidseitig beschrieb. Ella las sorgfältig den Text mit der ansprechenden zierlichen Handschrift.
Dezember
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