Todesmarsch
Wind hatte ihnen Bonbonpapier, leere Popkornschachteln und anderen Abfall vor die Füße geblasen, und an machen Stellen mußten sie sich förmlich hindurchkämpfen. Das ist nicht fair, dachte Garraty voll Selbstmitleid.
»Wie sieht die weitere Route aus?« fragte McVries ihn mit entschuldigendem Blick.
Garraty schloß die Augen und versuchte, die Straßenkarte im Kopf nachzuzeichnen. »Ich kann mich nicht an alle klei nen Städte erinnern, aber als nächstes kommt Lewistown. Es ist die zweitgrößte Stadt des Staates, größer als Augusta. Wir gehen auf der Hauptstraße hindurch. Früher hieß sie Lisbon Street, doch heute ist sie die Cotter Memorial Avenue, zur Er innerung an Reggie Cotter. Das war der einzige Geher aus Maine, der je den Marsch gewonnen hat. Aber das ist schon lange her.« \ »Er ist gestorben, nicht wahr?« erinnerte Baker sich.
»Ja. Er hat in einem Auge geblutet und den Marsch halb blind beendet. Und dann stellte sich heraus, daß er ein Blutgerinsel im Gehirn hatte. Eine Woche später ist er gestorben.« In einem schwachen Versuch, die Last dieser Vorstellung zu vertreiben, wiederholte Garraty: »Es ist schon lange her.«
Sie schwiegen eine Weile. Das Bonbonpapier knisterte unter ihren Füßen wie ein weit entfernter Waldbrand. In der Menge ging eine rote Leuchtkugel hoch. Garraty sah einen schwachen Lichtschimmer am Horizont, der die Zwillingsstädte Lewistown und Auburn ankündigte. Sie kamen jetzt ins Land der Dusstettes und Aubouchons und Lavesques, das Land des Nous parlons frangais ici. Garraty spürte plötzlich eine unheimliche Lust auf einen Kaugummi.
»Und was kommt nach Lewistown?«
»Wir gehen die Route 196 entlang und dann auf der 126 nach Freeport, wo ich meine Mutter und meine Freundin sehen werde, und da kommen wir auf die U. S. i. Auf der bleiben wir dann bis zum Ende.«
»Der große Highway«, murmelte McVries.
»Genau.«
Die Gewehre explodierten, und sie fuhren zusammen.
»Das war Barkovitch oder Quince«, sagte Pearson. »Ich kann's nicht genau sehen... Einer läuft immer noch da vorn... Es ist -«
Barkovitch lachte laut in der Dunkelheit, ein schrilles, angsteinflößendes Geräusch. »Noch nicht, ihr Arschlöcher! Ich bin noch nicht tot! Noch nniinii...«
Seine Stimme schraubte sich höher und höher. Es klang wie eine kaputte Feuersirene. Seine Hände flogen plötzlich wie aufgeregte Tauben in die Höhe, und Barkovitch riß sich selbst die Kehle auf.
»Mein Gott!« schrie Pearson und übergab sich über seine Kleidung.
Sie flohen vor ihm, wichen ihm nach vorn und nach hinten aus, und Barkovitch fuhr fort, zu schreien und zu gurgeln und sich die Kehle zu zerfetzen, und lief dabei immer weiter. Sein verzerrtes Gesicht war zum Himmel emporgehoben, und sein Mund bildete ein dunkles Loch in der Finsternis.
Darin gab die Feuersirene allmählich ihren Geist auf und Barkovitch mit ihr. Er fiel zu Boden, und sie erschossen ihn, tot oder lebendig.
Garraty drehte sich um und lief weiter. Er war wie betäubt und dankbar, daß er sich nicht selbst eine Verwarnung zuge-zogen hatte. Auf den Gesichtern der anderen sah er eine Kopie seines eigenen Entsetzens. Barkovitch hatte seine Rolle ausgespielt. Garraty fand, daß das nichts Gutes für sie und ihre Zukunft auf dieser verdammten, dunklen Straße ahnen ließ.
»Mir geht es gar nicht gut«, murmelte Pearson mit flacher Stimme. Er würgte Luft aus seinem Magen hoch und krümmte sich zusammen. »Oh, nein, überhaupt nicht gut. Mir. Geht. Es. Beschissen. Oh!«
McVries blickte stur geradeaus. »Ich glaube, ich wünschte, ich wäre wahnsinnig«, sagte er nachdenklich.
Nur Baker sagte nichts. Und das fand Garraty höchst seltsam, denn er hatte plötzlich den Duft von Louisianas Geißblatt in der Nase. Er konnte die Frösche in den Flußniederungen quaken hören. Das süße, einschläfernde Zirpen der Zikaden, die sich langsam durch die zähe Zypressenborke gruben, um ihren siebzehnjährigen, traumlosen Schlaf zu schlafen. Und er konnte Bakers Tante auf der Veranda sehen, die gemütlich in ihrem Schaukelstuhl saß und sich mit verträumt lächelnden Augen vor- und zurückschaukelte. Die mit schläfrigem Blick auf das Rauschen und Summen und die leisen entfernten Stimmen in dem alten Philco Radio hörte, das in einen altmodischen Chippendale-Schrank aus Mahagoni eingebaut war. Sie schaukelte und schaukelte und schlief mit einem sanften Lächeln ein. Wie eine Katze, die gerade die Sahne von der Milch geschleckt hatte und
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