Todesmarsch
machen? Na, wenn das hier nicht die Hölle war, dann war es eine verdammt gute Nachahmung - ja, eine verdammt gute - O Gott! ' Garraty wurde auf einmal ganz schwindlig, und er hatte das Gefühl, gleich selbst in Ohnmacht zu fallen. Er hob die Hände und schlug sich rechts und links ins Gesicht, immer härter.
»Alles in Ordnung?« fragte McVries ihn.
»Mir ist schwindlig.«
»Gieß dir...« Schnelles, pfeifendes Atmen. »Gieß dir ...die Feldflasche ... über den Kopf.«
Garraty befolgte seinen Rat. Ich taufe dich auf den Namen Raymond Davis Garraty, pax vobiscum. Das Wasser war kalt, aber das Schwindelgefühl hörte auf. Die Tropfen rannen ihm in kleinen Bächen unter das Hemd. »Feldflasche für Nummer 47!« rief er laut, aber die Anstrengung erschöpfte ihn gleich wieder. Er wünschte, er hätte noch einen Augenblick damit gewartet.
Einer der Soldaten trottete auf ihn zu und (brachte ihm die neue Flasche. Garraty spürte in der Dunkelheit, daß die ausdruckslosen, marmornen Augen des Mannes ihn musterten. »Hau ab«, sagte er grob, als er die Feldflasche entgegennahm. »Du wirst dafür bezahlt, mich zu erschießen, aber nicht dafür, mich anzusehen.«
Der Soldat ging, ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern, wieder weg. Garraty zwang sich, etwas schneller zu gehen.
Sie stiegen und stiegen, keiner brach mehr zusammen, und dann hatten sie es endlich geschafft. Es war neun Uhr. Seit genau zwölf Stunden befanden sie sich jetzt auf der Straße. Für Garraty bedeutete das fast nichts mehr. Das einzige, was im Augenblick für ihn Bedeutung hatte, war die frische, kühle Brise, die über die Hügelkuppe wehte, das Zwitschern eines Vogels, das Gefühl des feuchten Hemdes auf seiner Haut und die Erinnerungen in seinem Kopf. Er klammerte sich mit verzweifelter Wachsamkeit an sie, denn sie waren sein Eigentum, das einzige, was er noch besaß.
»Pete?«
»Ja?«
»Mann, bin ich froh, daß ich lebe.«
McVries schwieg. Jetzt ging es wieder abwärts, und das Gehen fiel leichter.
»Ich werde mir große Mühe geben, am Leben zu bleiben«, fuhr Garraty beinahe entschuldigend fort.
Die Straße wand sich in sanften Kurven nach unten. Noch waren sie hundertfünfzehn Meilen von Oldtown und damit von der relativen Ebenheit der Autobahn entfernt.
»Das ist es doch, worum es hier eigentlich geht, nicht wahr?« sagte McVries schließlich, und seine Stimme klang birüchig wie mit Spinnweben überzogen, als hätte er sie aus einem tiefen, verstaubten Keller ausgegraben. Eine Zeitlang schwiegen sie beide, und auch sonst sprach niemand. Baker schlenderte stetig, die Hände in den Hosentaschen, weiter, und sein Kopf nickte leicht im Rhythmus seiner Schritte. Er hatte noch keine Warnung erhalten. Olson war zu seinem >Gegrüßt seist du, Maria, voller Gnaden<, zurückgekehrt; sein Gesicht hing wie ein heller Klecks in der Dunkelheit. Harkness war dabei, sein Abendbrot zu essen. . »Garraty«, sagte McVries einen Augenblick später.
»Hier.«
»Hast du schon mal das Ende eines solchen Marsches gesehen?«
»Nein, du?«
»Himmel, nein. Ich dachte nur, weil du doch hier in der Nähe wohnst und ...«
»Mein Vater hat diese Wettbewerbe gehaßt. Er hat mich einmal mitgenommen, aber das war wohl als Lektion gedacht. Es ist nur ein einziges Mal gewesen.«
»Ich habe es gesehen.«
Garraty erschrak beim Klang dieser Stimme. Es war wieder Stebbins. Er hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt und ging immer noch mit vorgeneigtem Kopf neben ihnen her. Sein Mondes Haar wehte wie ein verblaßter Heiligenschein um seinen Kopf.
»Wie war das?« wollte McVries von ihm wissen. Neugierig klang seine Stimme auf einmal jünger.
»Du solltest es lieber nicht hören«, antwortete Stebbins.
»Ich habe doch danach gefragt, oder?«
Stebbins schwieg. Auch Garraty war plötzlich ungeheuer neugierig geworden. Stebbins war nicht zusammengebrochen, er zeigte nicht einmal eine Spur von Müdigkeit. Er ging immer weiter, ohne sich zu beklagen, und war seit dem Start nicht ein einziges Mal verwarnt worden.
»Ja, erzähl mal, wie ist das Ende?« hörte er sich fragen.
»Ich habe vor vier Jahren einmal so ein Ende gesehen«, belichtete Stebbins. »Da war ich dreizehn. Der Marsch hörte etwa sechzehn Meilen hinter der Grenze von New Hamp-shire auf. Sie hatten die Nationalgarde und sechzehn Einheiten von der Bundespolizei geholt, um die Staatspolizei zu verstärken. Das war auch nötig, denn die Zuschauer standen gut fünfzig Meilen weit in Sechzigerreihen an
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