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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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aufgeregten Flügelschlägen aus dem Unterholz hoch. Als Stebbins und Garraty um die Kurve bogen, war der Leichensack schon verschlossen. Schnelle Arbeit. Sie konnten nicht mehr sehen, wer es gewesen war.
    »Man erreicht einen gewissen Punkt, an dem die Menge einem nichts mehr bedeutet«, erklärte Stebbins. »Weder als Ansporn noch als Belästigung. Sie ist dann für einen einfach nicht mehr vorhanden. Einem Mann auf dem Schafott geht es genauso, glaube ich. Man buddelt sich so tief ein, daß man sie nicht mehr wahrnimmt.«
    »Ich glaube, das verstehe ich«, antwortete Garraty furchtsam.
    »Wenn du das wirklich verstehen würdest, hättest du da hinten nicht einen Anfall gekriegt und keinen Freund gebraucht, um dir das Leben zu retten. Aber du wirst es noch kapieren.«
    »Ich frage mich, wie tief du dich verbuddelst.«
    »Und wie tief bist du drin, Garraty?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Auch das ist etwas, was du noch herausfinden wirst. Loten wir die unausgeloteten Tiefen von Ray Garraty aus. Klingt fast wie eine Reisereklame, nicht wahr? Du buddelst, bis du aufs Grundgestein stößt. Dann buddelst du dich ins Grundgestein, und schließlich erreichst du den wahren Grund. Dann bist du am Ende. Das ist jedenfalls meine Theorie. Jetzt laß mich deine hören.«
    Garraty antwortete nicht. Im Augenblick hatte er keine Theorie.
    Der Marsch ging weiter, und die Sonne brannte weiterhin auf sie herab. Sie stand jetzt genau über dem Waldstück, durch das die Straße führte, und ihre Schatten sahen wie verhutzelte Zwerge aus. Gegen zehn Uhr verschwand einer der Soldaten in der hinteren Luke des Panzerfahrzeugs und tauchte einen Augenblick später mit einer langen Stange wieder auf, deren oberes Drittel mit Segeltuch umwickelt war. Er schloß die Luke und steckte die Stange in den Schlitz. Dann langte er unter das Tuch und fummelte an etwas, vermutlich einer Sperre, herum. Einen Augenblick später breitete sich ein großer, graubrauner Sonnenschirm aus, der den größten Teil des Fahrzeugs überdeckte. So saßen er und die beiden anderen Diensthabenden gemütlich mit untergeschlagenen Beinen im Schatten des tristen Armeeschirms.
    »Dir räudigen Bastarde!« schrie jemand. »Mein Preis wird eure öffentliche Kastration sein!«
    Die Soldaten schienen von dieser Drohung nicht sonderlich beeindruckt. Sie ließen ihre leeren Blicke weiterhin über die Gruppe streifen und betätigten ab und zu die Computerkonsole.
    »Sie werden es wohl an ihren Frauen auslassen, wenn alles vorbei ist«, vermutete Garraty.
    »Oh, ich bin sicher, daß sie das tun werden«, antwortete Stebbins lachend.
    Garraty hatte vorerst keine Lust mehr, mit Stebbins zu reden. In seiner Nähe fühlte er sich unwohl. Er konnte ihn nur in kleinen Dosen ertragen. Deshalb lief er wieder schneller und überließ Stebbins sich selbst. 10.20 Uhr. In dreiundzwanzig Minuten konnte er eine seiner Warnungen vergessen, doch im Augenblick lief er immer noch mit dreien. Allerdings beunruhigte ihn das nicht so stark, wie er angenommen hatte. Er spürte immer noch eine unerschütterliche, blinde Sicherheit, daß dieser Organismus Ray Garraty nicht sterben könne. Die anderen ja, aber sie waren ja auch nur Sta-tisten im Film seines Lebens. Doch Ray Garraty, der Star des Dauerhits Die Ray-Garraty-Story starb nicht. Vielleicht würde er mit der Zeit sowohl emotional als auch intellektuell einsehen müssen, daß diese Vorstellung irreal sei - vielleicht wäre das die endgültige Tiefe, von der Stebbins gesprochen hatte, aber das war ein unangenehmer, unwillkommener Gedanke.
    Ohne es zu merken, hatte er gut zwei Drittel der Gruppe überholt und lief jetzt hinter McVries. Die drei bildeten eine ziemlich müde Formation eines Schlangentanzes: Barkovitch voran, immer noch bemüht, großartig auszusehen, doch die Farbe war schon etwas abgeblättert; dann McVries, der den Kopf hängen ließ, die Hände halb zu Fäusten geballt hatte und den linken Fuß jetzt ein bißchen schonte; und am Schluß der Schlange er, der Star der Ray-Garraty-Story hochderoselbst. Wie sehe ich wohl aus? fragte er sich.
    Als er sich mit der Hand über die Wange strich, hörte er ein kratzendes Geräusch, das seine Bartstoppeln erzeugten. Na, ich sehe wohl auch nicht mehr so ganz flott aus.
    Er lief noch zwei Schritte schneller und schob sich neben McVries, der kurz aufblickte und dann wieder auf Barko-vitchs Rücken starrte. Seine Augen waren dunkel, und er konnte nicht erkennen, was er dachte.
    Sie erklommen

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