Todesmarsch
emporgehoben, auf der weißen Mittellinie, als die Schüsse ihn trafen.
Und um fünf vor eins war ein weiterer Junge, den Garraty nicht kannte, an einem Hitzschlag zusammengebrochen.
Und- das ist mein Auftritt, dachte Garraty, während er um die zuckende, von den Gewehren niedergestreckte Gestalt herumging und die glitzernden Schweißperlen im Haar des erschöpften, bald nicht mehr lebenden Jungen betrachtete. Das war mein Auftritt. Kann ich jetzt gehen?
Die Gewehre dröhnten nochmals, und eine Gruppe von Schuljungen, die im schmalen Schattenstreifen eines Pfadfinderzeltes saßen, applaudierten kurz.
»Ich wünschte, der Major würde vorbeikommen«, sagte Baker bockig. »Ich will den Major sehen!«
»Wozu?« fragte Abraham mechanisch. Er war während der letzten Stunden noch hagerer geworden. Seine Augen lagen noch tiefer in ihren Höhlen, und ein bläulicher Anflug seines Bartes beschattete sein Gesicht.
»Damit ich auf ihn pissen kann«, antwortete Baker.
»Immer mit der Ruhe«, -sagte Garraty. »Entspanne dich einfach.« Er hatte seine drei Warnungen abgelaufen.
»Entspann du dich doch«, giftete Baker ihn an. »Und sieh zu, was es dir bringt.«
»Du hast kein Recht, den Major zu hassen. Er hat dich nicht gezwungen, mitzugehen.«
»Mich gezwungen? Mich gezwungen? Nein, er bringt mich nur um!«
»Das ist immer noch kein Grund ...«
»Halt den Mund!« sagte Baker barsch, und Garraty schwieg. Er wischte sich mit der Hand über den Nacken und spähte in den dunstig blauen Himmel hinauf. Sein Schatten war ein deformiertes, gedrängtes Bündel direkt unter seinen Füßen. Er griff zu seiner dritten Feldflasche an diesem Vormittag und trank sie leer.
Baker sagte: »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien. Meine Füße ...«
»Klar.« Garraty winkte ab.
»Wir werden alle so«, fuhr Baker fort. »Manchmal denke ich, daß ist das Schlimmste an der Sache.«
Garraty schloß die Augen. Er war entsetzlich schläfrig.
»Wißt ihr, was ich gern täte?« fragte Pearson. Er lief zwischen Garraty und Baker.
»Den Major anpissen«, sagte Garraty müde. »Jeder will den Major anpissen. Wenn er wieder vorbeikommt, sollten wir ihn einkreisen, zu Boden ziehen, unsere Hosenklappen aufreißen und ihn ertränken -«
»Nein, das wünsche ich mir nicht.« Pearson taumelte wie ein Mann im letzten bewußten Stadium der Trunkenheit. Sein Kopf rollte ihm in Halbkreisen in den Nacken, und seine Augenlider flatterten wie eine kaputte Fensterjalousie auf und zu. »Es hat nichts mit dem Major zu tun. Ich mochte ins nächste Feld gehen, mich hinlegen und die Augen schließen. Einfach da im Weizen auf dem Rücken liegen und ...«
»In Maine wird kein Weizen angebaut«, korrigierte Garraty. »Das ist Heu.«
»Dann eben im Heu. Und ein Gedicht dichten. Während ich einschlafe.«
Garraty untersuchte seinen neuen Futtergürtel, fand aber in den meisten Taschen nichts mehr. Schließlich entdeckte er noch eine Packung Salzkräcker, die er mit Wasser hinunterspülte. »Ich komme mir vor wie ein Sieb«, sagte er. »Ich trinke das Wasser aus, und zwei Minuten später tritt es wieder aus meiner Haut heraus.«
Die Gewehre meldeten sich wieder zu Wort, und eine weitere Gestalt brach anmutslos wie ein müder Kastenteufel zusammen.
»Fünfundvierzig«, näselte Scramm, der sich zu ihnen gesellte. »Wenn das so weitergeht, kommen wir nicht mal bis Portland.«
»Du klingst aber gar nicht gut«, sagte Pearson, und man konnte einen ganz vorsichtigen Anflug von Optimismus in seiner Stimme hören.
»Ja, ein Glück, daß ich so eine gute Konstitution habe«, meinte Scramm fröhlich. »Ich glaube, ich habe jetzt auch Fieber.«
»Mein Gott, wie kannst du bloß damit weitergehen?« fragte Abraham mit beinahe religiöser Ehrfurcht.
»Das fragst du mich?« erwiderte Scramm durch seine ver-stopfte Nase. »Sieh dir mal den an! Wie bringt er es fertig, weiterzugehen? Das möchte ich gern wissen!« Er deutete mit seinem Daumen auf Olson.
Olson hatte seit zwei Stunden nicht mehr gesprochen. Er hatte auch seine Feldflasche nicht benutzt, und gierige Blicke streiften immer wieder seinen unberührten Nahrungsgürtel. Seine obsidiandunklen Augen waren starr nach vorn gerichtet. Seine Wangen waren von einem zwei Tage alten Bart gesprenkelt, was seinem Gesicht eine kranke, listige Schläue verlieh. Selbst sein Haar, das am Hinterkopf zerzaust war und ihm vorn in die Stirn hing, trug zu dem allgemeinen Eindruck von makabrer Schaurigkeit bei. Auf
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