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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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großen Kinokamera zu filmen. Pearson, Abraham und Jensen griffen sich gleichzeitig mit den linken Händen an den Hosenschritt und drehten ihm mit der Rechten eine Nase. Die maschinenartige Präzision dieser kleinen Trotzhandlung verwirrte Garraty.
    »Ich habe geweint«, sagte McVries. »Wie ein kleines Baby. »Ich fiel auf die Knie, ergriff den Saum ihres Rocks und bat sie, mir zu vergeben, und die ganze Zeit floß das Blut auf den Boden. Eigentlich war es eine widerliche Szene, Garraty. Sie schnappte nach Luft und rannte ins Badezimmer. Ich hörte, wie sie sich dort übergeben mußte. Als sie zurückkam, brachte sie mir ein Handtuch für mein Gesicht mit. Sie weinte und sagte, daß sie mich nie wiedersehen wolle. Und dann fragte sie mich, warum ich ihr das angetan, warum ich sie so verletzt hätte. Dazu hätte ich kein Recht, sagte sie. Ich stehe da, Ray, die Wange völlig blutig und aufgeschnitten, und sie fragt mich, warum ich sie verletzt habe!«
    »Ja.<<
    »Ich bin mit dem Handtuch an der Wange weggegangen.
    Ich mußte mit zwölf Stichen genäht werden, und das war die Geschichte von der Narbe. Bist du nun zufrieden?«
    »Hast du sie seitdem wiedergesehen?«
    »Nein, und ich habe auch kein Verlangen danach. Sie kommt mir heute ganz klein vor, ganz weit weg. An diesem Punkt meines Lebens ist Prisälla nichts weiter als ein Schatten am Horizont. Ich habe mir die große Liebe nur eingebildet, Ray. Etwas - vielleicht ihre Mutter, die war eine arge Säuferin - hat sie total auf Geld fixiert. Sie war ein echter Geizkragen. Distanz verleiht Perspektive, sagt man. Gestern morgen war Priscilla noch ungeheuer wichtig für mich, heute bedeutet sie mir nichts mehr. Ich dachte, es würde mir weh tun, dir diese Geschichte zu erzählen, aber es hat nicht weh getan. Außerdem bezweifle ich jetzt, ob der ganze Mist wirklich etwas damit zu tun hat, daß ich jetzt hier bin. Er hat nur eine gute Entschuldigung abgegeben.«
    »Wie meinst du das?«
    »Warum bist du hier, Garraty?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Garraty mechanisch wie eine Puppe. Freaky D'Allessio war nicht fähig gewesen, den anfliegenden Ball aufzufangen - seine Augen schielten, so daß er keine richtige Tiefenperspektive hatte -, und der Ball war ihm an die Stirn geschlagen und hatte ihn für immer gebrandmarkt. Und später hatte er — oder war es davor gewesen? Seine Erinnerungen waren ihm etwas durcheinandergeraten — seinem besten Freund Jimmy den Kolben seines Spielzeuggewehres an den Mund geschlagen. Vielleicht hatte er heute auch eine solche Narbe wie McVries. Jimmy. Jimmy und er hatten zusammen Doktor gespielt.
    »Du weißt es nicht«, wiederholte McVries. »Du wirst hier sterben, und du weißt nicht einmal, warum.«
    »Es ist unwichtig, wenn man tot ist.«
    »Mag sein, aber es gibt etwas, das du unbedingt wissen mußt, Ray, damit das alles nicht bedeutungslos bleibt.«
    »Und das wäre?«
    »Na, daß man dich übers Ohr gehauen hat. Willst du sagen, du hättest das wirklich nicht gewußt, Ray? Wirklich nicht?«

    Um ein Uhr machte Garraty wieder Inventur.
    Einhundertfünfzehn Meilen waren sie jetzt gegangen. Noch vierzig Meilen bis Oldtown, hundertzwanzig bis Augusta, der Staatshauptstadt, und hundertfünfzig Meilen bis Freeport oder mehr; er befruchtete, daß mehr als dreißig Meilen zwischen Augusta und Freeport lagen. Wahrscheinlich noch zweihundertdreißig Meilen bis zur Grenze von New Hampshire, und es liefen Gerüchte um, daß die Gruppe es mit Sicherheit so weit schaffen würde.
    Schon eine lange Weile - neunzig Minuten oder so - war niemand mehr erschossen worden. Sie liefen, lauschten mit halbem Ohr auf die Jubelrufe am Straßenrand und starrten Meile für Meile in den eintönigen Kiefernwald. Garraty entdeckte neue Schmerzensstiche in seiner linken Wade, die sich zu dem gleichmäßigen, steifen Pochen in seinen Beinen und der beständigen, dumpfen Agonie seiner Füße gesellte.
    Um die Mittagszeit, als die Hitze ihren Höhepunkt erreicht hatte, hatten die Gewehre sich plötzlich wieder vernehmen lassen. Ein Junge namens Tressler, Nr. 92, bekam einen Hitzschlag und wurde, ohnmächtig auf der Straße liegend, erschossen. Ein anderer Junge erlitt spastische Krämpfe und wurde beseitigt, während er röchelnd auf die Straße spie und häßliche, erstickende Geräusche um seine verschluckte Zunge herum ausstieß. Aaronson, Nummer i, hatte in beiden Füßen Krämpfe und stand wie eine Statue, das Gesicht mit überdehntem Hals zur Sonne

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