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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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seinen pergamenttrockenen Lippen hatten sich Blasen gebildet. Seine Zunge hing wie eine tote Schlange in einer Höhle aus seinem Mund heraus. Die gesunde rosa Farbe war verschwunden. Sie hatte ein schmutziges Grau angenommen und war zudem noch mit Straßenstaub bedeckt.
    Er ist soweit, dachte Garraty, ganz sicher ist er das. Er ist da, wo wir, wenn Stebbins recht hat, alle ankommen werden, falls wir lang genug dabeibleiben. Wie tief hat er sich in sich selbst vergraben? Ein paar Faden? Meilen? Lichtjahre? Wie tief und wie dunkel? Und die Antwort kam von allein: Zu tief, um noch hinauszusehen. Er versteckt sich dort in der Dunkelheit, und sie ist zu tief, um noch irgend etwas zu sehen.
    »Olson?« rief er leise. »Olson?«
    Olson antwortete nicht. Nichts bewegte sich, außer seinen Füßen.
    »Ich wünschte, er würde wenigstens seine Zunge reinnehmen«, flüsterte Pearson nervös.
    Der Marsch ging weiter.
    Der .Wald wich ein wenig zurück, und sie kamen wieder durch einen kleinen Ort, der an der Straße lag. Die Bürgersteige waren von fröhlich winkenden Zuschauern bevölkert, die vornehmlich GARRATY-Schilder schwenkten. Dann sschloß der Wald sie wieder ein, aber selbst er konnte die Schaulustigen nun nicht mehr zurückhalten. Sie standen jetzt überall auf dem weichen Seitenstreifen, hübsche Mäd-eben in Shorts und luftigen Oberteilen, Jungen in Basketballhosen und Turnhemden.
    Ein fröhlicher Ferientag, dachte Garraty.
    Er konnte sich nicht länger wünschen, daß er nicht hier wäre. Er war zu müde und abgestumpft, daran überhaupt zu denken. Was geschehen war, war geschehen. Nichts auf der Welt würde es wieder ändern. Er nahm an, daß es ihm mit der Zeit sogar zu anstrengend werden würde, mit den anderen zu reden. Wenn er sich doch nur in sich selbst verstecken und wie ein kleines Kind unter der Bettdecke zusammenrollen könnte, ohne irgendwelche Sorgen zu kennen! Dann wäre alles viel einfacher.
    Er hatte lange darüber nachgedacht, was McVries zu ihm gesagt hatte. Waren sie wirklich alle beschwindelt worden, angeschmiert? Nein, das konnte nicht sein, sagte er hartnäckig zu sich selbst. Einer von ihnen war nicht angeschmiert worden. Einer von ihnen würde alle anderen anschmieren, nicht wahr?
    Er leckte sich über die trockenen Lippen und trank einen Schluck Wasser. Kurz darauf kamen sie an einem kleinen, grünen Straßenschild vorbei, auf dem stand, daß der Maine Turnpike noch vierzig Meilen entfernt sei.
    »Na bitte«, sagte er zu niemand Bestimmten, »nur noch vierundvierzig Meilen bis Oldtown.«
    Keiner antwortete ihm, und er überlegte gerade, ob er einen kleinen Spaziergang nach vorn zu McVries einlegen sollte, da hörte er vorn an der nächsten Kreuzung eine Frau schreien. Der Verkehr war abgesperrt worden, und die Menge drückte sich massiv gegen die Barrieren und die Polizisten, die sie mit aller Kraft zurückhielten. Sie winkten mit ihren Händen, Schildern und Sonnenölfläschchen.
    Die Frau, die geschrien hatte, war hochgewachsen und hatte ein rotes Gesicht. Sie warf sich gegen einen der hüfthohen Sägeböcke, der als Barriere diente, fiel mit ihm vornüber und zog ein ganzes Stück des gelben Absperrungsseiles hinter sich her. Sie kratzte und kämpfte und schrie die Beamten an, die sie festhielten. Die Männer ächzten unter der Anstrengung.
    Ich kenne sie, dachte Garraty erstaunt. Die kenne ich doch?
    Blaues Taschentuch, angriffslustig funkelnde Augen, selbst das blaue Marinekleid mit dem ausgerissenen Saum, all das kam ihm bekannt vor. Die Schreie der Frau wurden dünner, und sie kratzte einem Polizisten, der sie zu halten versuchte, mit ihrer herumwirbelnden Hand die Wange auf. Garraty konnte die blutigen Streifen deutlich sehen.
    Er ging im Abstand von vier Metern an ihr vorbei, und erinnerte sich plötzlich, wo er sie schon gesehen hatte - natürlich das war Percys Mutter. Percy, der versucht hatte, sich in die Büsche zu schlagen und statt dessen in die andere Welt befördert worden war.
    »Ich will meinen Jungen!« brüllte sie. »Ich will meinen Jungen!«
    Die Menge jubelte begeistert und unvoreingenommen. Ein kleiner Junge, der hinter ihr stand, spuckte ihr ans Bein und sauste dann schnell davon.
    Jan, dachte Garraty, ich komme zu dir, Jan. Scheiß auf den ganzen Mist hier, ich schwöre zu Gott, ich komme. Doch in dem Punkt hatte McVries recht gehabt, Jan hatte nicht gewollt, daß er den Marsch mitmachte. Sie hatte geweint und gebettelt, daß er es sich anders überlegen sollte.

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