Todesmarsch
Garraty. »Ich hab' nicht viel gewußt, als ich hiermit angefangen habe, und jetzt weiß ich noch weniger.«
»Glaubst du, daß du eine Chance hast?«
»Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, warum ich eigentlich mit dir rede. Es ist, als redete ich mit einer Rauchwolke.«
Weit vorn heulten Polizeisirenen in die Nacht.
»Jemand ist da vorn, wo der Polizeigürtel dünner wird, durch die Absperrung gebrochen«, sagte Stebbins. »Die Ein-geborenen werden unruhig, Garraty. Denk bloß an all die Leute, die dir da vorn sorgfältig den Weg bereiten.«
»Dir auch.«
»Ja, mir auch«, stimmte Stebbins zu und sagte dann lange Zeit nichts mehr. Der Kragen seines Flanellhemdes flatterte locker um seinen Hals. »Es ist schon erstaunlich, wie der Geist den Körper beherrscht«, meinte er schließlich. »Es ist erstaunlich, wie er die Kontrolle übernimmt und den Körper diktiert. Eine durchschnittliche Hausfrau geht vielleicht sechzehn Meilen pro Tag, vom Kühlschrank zum Herd, von der Wäscheleine zum Bügelbrett. Am Abend ist sie soweit, daß sie gern die Füße hochlegen möchte, aber sie ist nicht erschöpft. Ein Vertreter macht gut zwanzig Meilen pro Tag, und ein Oberschüler, der für die Footballmannschaft trainiert, läuft fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Meilen an einem Tag vom Aufstehen bis zum Zubettgehen. Sie werden alle müde, aber keiner von ihnen ist erschöpft.«
»Ja.«
»Aber angenommen, jemand sagt der Hausfrau, daß sie sechzehn Meilen zurücklegen muß, bevor sie ihr Abendessen haben kann.«
Garraty nickte. »Sie wäre erschöpft anstatt müde.«
Stebbins antwortete nicht. Garraty hatte das seltsame Gefühl, daß er ihn enttäuscht hatte.
»Hm, also nicht?«
»Glaubst du nicht, sie würde zusehen, daß sie die sechzehn Meilen schon bis zum Mittagessen hereinholt, damit sie nachmittags die Schuhe abstreifen und sich die Seifenopern im Fernsehen angucken kann? Ich schon. Bist du müde, Garraty?«
»Ja«, antwortete Garraty kurz. »Ich bin müde.«
»Erschöpft?«
»Na ja, nicht weit davon entfernt.«
»Nein, du bist noch nicht erschöpft, Garraty.« Er deutete mit dem Daumen auf Olsons Schatten. »Das bedeutet, erschöpft zu sein. Er ist jetzt fast am Ende.«
Garraty beobachtete Olson fasziniert. Fast erwartete er, daß er auf Stebbins Rede hin zusammenbrechen würde. »Worauf willst du hinaus?«
»Frag deinen Busenfreund Art Baker. Ein Maultier mag nicht pflügen, aber es mag Karotten. Also hängt man ihm ein paar vor die Nase. Ohne Karotten wäre es von der Arbeit erschöpft. Aber ein Maultier mit Karotten vor der Nase arbeitet lange und ist dabei nur müde. Kapiert?«
»Nein.«
Stebbins lächelte wieder. »Du wirst es noch kapieren. Sieh dir Olson an. Er hat seinen Appetit auf Karotten verloren. Er weiß es zwar noch nicht, aber es ist so. Behalte ihn immer im Auge, Garraty. Du kannst eine Menge von ihm lernen.«
Garraty sah Stebbins aufmerksam an, unsicher, ob er ihn noch ernst nehmen sollte. Stebbins lachte laut heraus. Es war ein volles, herzliches Lachen, das die anderen aufrüttelte, und einige Jungen drehten die Köpfe nach ihnen um. »Geh hin. Rede mit ihm, Garraty. Und wenn er nicht mit dir reden will, dann geh ganz nahe heran und sieh ihn dir genau an. Es ist nie zu spät, um etwas zu lernen.«
Garraty schluckte trocken. »Würdest du sagen, daß die Lektion sehr wichtig ist?«
Stebbins hörte auf zu lachen und faßte ihn fest am Handgelenk. »Vielleicht die wichtigste, die du je lernen wirst. Das Geheimnis des Lebens über den Tod. Dreh diese Gleichung um, und du kannst es dir leisten, zu sterben, Garraty. Dann kannst du dein Leben wie ein Trunkenbold auf der Sauftour verbringen.«
Stebbins ließ seine Hand los. Garraty massierte sich langsam das Gelenk. Stebbins hatte ihn offensichtlich entlassen. Unsicher ließ er ihn allein und marschierte auf Olson zu.
Er hatte das Gefühl, als würde er durch einen unsichtbaren Draht zu ihm hingezogen. Er hatte ihn um vier Uhr am Nachmittag zum letztenmal gesehen. Jetzt versuchte er, sich sein Gesicht vorzustellen.
Vor langer Zeit hatte er einmal eine angstvolle, schlaflose Nacht verbracht, weil er einen Film gesehen hatte - wer hatte noch die Hauptrolle gespielt? Robert Mitchum, nicht wahr? Er hatte einen untadeligen Erweckungspriester in den Süd- Staaten gespielt, der gleichzeitig ein zwanghafter Mörder war. Olsons Schatten hatte jetzt ein bißchen Ähnlichkeit mit ihm. Sein Körper schien sich durch die rasante
Weitere Kostenlose Bücher