Todesmarsch
Beinen.
Der Hügel rundete sich, wurde ein Stück flacher und stieg dann noch einmal steil an. Aber der Abhang auf der anderen Seite senkte sich sanft der Ebene zu, so daß man wieder zu Atem kommen konnte. Nur das Wackelpuddinggefühl in den Beinen wollte nicht weggehen. Meine Beine brechen zusammen, dachte Garraty ruhig. Sie werden mich niemals bis nach Freeport tragen. Ich glaube nicht einmal, daß sie es bis Oldtown schaffen. Ich sterbe.
Ein rhythmisch schlagendes Geräusch erfüllte allmählich die Nacht. Es klang wild und orgiastisch. Eine Stimme, nein, viele Stimmen, die wieder und wieder das eine Wort sangen:
Garraty! Garraty! Garraty! Garraty! Garraty!
Das mußte Gottes Stimme sein oder die seines Vaters. Er war gekommen, um die Beine unter ihm wegzusäbeln, bevor er das Geheimnis in Erfahrung bringen konnte, das Geheimnis, das Geheimnis, wie - Wie Donnergetöse: Garraty! Garraty! Garraty!
Es war nicht sein Vater, und es war auch nicht Gott. Die gesamte Schülerschaft der Oldtown Highschool schien sich hier versammelt zu haben und rief einstimmig seinen Namen. Als sie sein müdes, ausgezehrtes Gesicht erkannten, löste der Sprechgesang sich in ein wildes Jubelgeschrei auf. Die Cheerleaders ließen ihre Pompons fliegen. Die Jungen pfiffen schrill und küßten die Mädchen. Garraty winkte, lä-chelte, nickte mit dem Kopf und verkroch sich schüchtern hinter Olson.
»Olson«, flüsterte er. »He, Olson!«
In Olsons Augen flackerte ein winziges Licht auf. Ein schwacher Lebensfunke wie bei einem kaputten Starter in einem klapprigen Automobil, wenn man ihn einmal betätigte.
»Sag mir, wie, Olson«, flüsterte er. »Sag mir, was ich tun soll.«
Die Jungen und Mädchen von der Highschool - war er wirklich einmal zur Schule gegangen oder war das nur ein Traum? - standen jetzt hinter ihnen und kreischten immer noch verzückt.
Olsons Augen bewegten sich ruckartig in ihren Höhlen, als seien sie vor langer Zeit eingerostet und benötigten jetzt etwas Öl. Sein Mund öffnete sich mit einem vernehmlichen Schmatzen.
»Ja, gut«, trieb Garraty ihn eifrig an. »Rede. Rede mit mir, Olson. Sag's mir. Sag's mir.«
»Ah«, sagte Olson. »Ah. Ah.«
Garraty kam noch näher. Er legte Olson die Hand auf die Schulter und atmete eine Wolke aus Schweiß, Mundgeruch und Urin ein.
»Bitte«, flehte Garraty. »Streng dich an.«
»Ga. Go. Gott. Gottes Garten -«
»Gottes Garten?« wiederholte Garraty zweifelnd. »Was ist mit Gottes Garten, Olson?«
»Er ist. Voll. Unkraut«, sagte Olson traurig. Sein Kopf fiel ihm auf die Brust. »Ich.«
Garraty sagte nichts. Er konnte nicht. Sie stiegen einen neuen Hügel hinauf, und er keuchte schon wieder. Olson schien dabei nicht außer Atem zu geraten.
»Ich. Möchte nicht. Sterben«, sagte er.
Garratys Augen waren an der Ruine festgelötet, die einmal Olsons Gesicht gewesen war. Olson drehte ihm steif seinen Körper zu.
»Ah?« Sein rollender Kopf hob sich langsam. »Ga. Ga. Garraty?«
»Ja, ich bin's.« »Wie spät ist es?«
Garraty hatte seine Uhr vor einiger Zeit wieder aufgezogen und neu gestellt. Gott mochte wissen, warum. »Es ist dreiviertel neun.«
»Nicht. Nicht später. Als das?« Sein zerrüttetes Greisengesicht zeigte leichte Überraschung.
»Olson -« Er rüttelte Olson an der Schulter, dessen ganzes Gestell dabei wie eine Fahnenstange im Sturm klapperte., »Was ist der Sinn des Ganzen?« Plötzlich kicherte er wie wahnsinnig. »Was ist der Sinn des Ganzen, Alfie?«
Olson blickte Garraty verschmitzt an.
»Garraty«, füsterte er. Sein Atem gurgelte wie ein Abfußrohr. »Was?«
»Wie spät ist es?«
»Verdammt noch mal!« schrie Garraty ihn an und drehte schnell den Kopf herum, aber Stebbins blickte auf die Straße. Sollte er sich über ihn lustig machen, so konnte er es in der Dunkelheit nicht sehen.
»Garraty.«
»Was ist?« fragte er etwas ruhiger.
»Je. Jesus wird dich retten.«
Olson hob den Kopf jetzt ganz und fing an, die Straße zu verlassen. Er lief genau auf das Halbkettenfahrzeug zu.
»Warnung! Warnung für Nr. 70!«
Olson zögerte nicht einen Moment. Seine Gestalt drückte eine selbstzerstörerische Würde aus. Das Geschnatter der Gruppe legte sich. Sie beobachteten ihn mit weit aufgerissenen Augen.
Olson blieb nicht stehen. Als er den weichen Seitenstreifen erreichte, legte er die Hände an das Panzerfahrzeug und begann unter Schmerzen, daran hochzuklettern.
»Olson!« rief Abraham verblüfft. »He, das ist Hank Olson!«
Die Soldaten
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