Todesmarsch
zusammen herumspazieren und euch über euch selbst und das gesamte Universum lustig machen, was soll's? Das ist doch alles nur ein Haufen eingebildeter Blödsinn. Aber es vertreibt euch die Zeit. Mir mußt du nichts vormachen, Garraty, dahinter steckt nur euer Wille zu überleben. Und das gilt auch für die anderen. Sie werden langsam sterben. Sie werden nur Stück für Stück dabei draufgehen. Es mag mich vielleicht erwischen, aber im Augenblick habe ich das Gefühl, daß ich noch bis New Orleans marschieren werde, bevor ich auf die Knie falle und mich den Mündungsfeuern von ihrem Kinderwagen da ausliefere.«
»Wirklich?« Eine Welle von Enttäuschung spülte über ihn hinweg. »Meinst du das ernst?«
»Ja, das meine ich ernst. Mach dich auf was gefaßt, Gar-, raty. Wir haben noch eine lange Strecke vor uns.« Damit wandte er sich ab und lief den beiden Lederjungen, Mike und Joe, hinterher, die die Gruppe immer noch anführten. Garraty ließ den Kopf sinken und döste wieder ein.
Seine Gedanken trennten sich von seinem Körper. Sein Gesicht glich einer großen, unsichtbaren Kamera voll von un-belichtetem Filmmaterial, die alles und jedes aufnahm. Der Film spulte sich locker und reibungslos und vor allem schmerzlos ab. Er sah seinen Vater vor sich, der in riesigen, grünen Gummistiefeln von ihm wegging. Dann dachte er an Jimmy Owens. Ja, er hatte Jimmy mit dem Lauf seines Luftgewehres an den Mund geschlagen, und ja, er hatte es absichtlich getan. Denn es war Jimmys Idee gewesen, die Kleider auszuziehen und sich an allen Stellen zu berühren. Es war seine Idee gewesen, seine Idee, seine Idee...
Das Gewehr fuhr in einem glitzernden Bogen durch die Luft, in einem absichtlichen glitzernden Bogen, und dann das spritzende Blut - oh, tut mir leid, Jimmy... Jimmy, ich glaub', du brauchst ein Pflaster - an Jimmys Kinn. Und dann hat er ihm ins Haus geholfen, dem heulenden, kleinen Jimmy, dem heulenden...
Garraty blickte verwirrt hoch. Trotz der Kälte schwitzte er ein bißchen. Jemand heulte. Die Gewehre waren auf eine kleine, beinahe korpulente Gestalt gerichtet. Das könnte Bar-kovitch sein. Sie feuerten einstimmig los, und der kleine, beinahe korpulente Körper flog wie ein nasser Wäschesack quer über zwei Fahrspuren. Das pickelige Mondgesicht gehörte nicht zu Barkovitch. Garraty fand, daß es ausgeruht und friedlich aussah.
Plötzlich fragte er sich, ob es nicht für sie alle besser wäre, wenn sie schon tot wären, doch sofort scheute er vor diesem Gedanken zurück. Aber war es denn nicht wahr? Ja, es war nicht von der Hand zu weisen. Die Schmerzen in seinen Füßen würden sich verdoppeln, ja verdreifachen, bevor das Ende in Sicht war; sie waren jetzt schon unerträglich. Und dabei waren sie nicht einmal das Schlimmste. Es war der Tod, dieser sie ständig begleitende Tod, der Aasgeruch, der sich in seiner Nase festgesetzt hatte. Das ununterbrochene Jubelgeschrei der Menge bildete einen beständigen Hintergrund seiner Gedanken. Der Lärm lullte ihn ein. Er fing wieder an zu dösen, und diesmal tauchte Jans Bild vor ihm auf. Er hatte sie eine Weile völlig vergessen. Auf gewisse Weise, dachte er zusammenhanglos, ist es sogar besser, zu dösen anstatt zu schlafen. Die Schmerzen in seinen Beinen und Füßen schie-nen zu jemand anderem zu gehören, jemandem, der nur ganz lose mit ihm in Verbindung stand. Mit nur geringer Anstrengung konnte er seine Gedanken in die richtigen Bahnen lenken, so daß sie für ihn arbeiteten.
Er baute sich ganz langsam ihr Bild zusammen. Ihre kleinen Füße. Die stämmigen, aber vollkommen weiblichen Beine, ihre schmalen Waden, die sich allmählich zu vollen, standfesten Schenkeln weiteten. Ihre enge Taille und die vollen, stolzen Brüste. Die intelligenten, gerundeten Linien in ihrem Gesicht. Ihr langes, blondes Haar. Hurenhaar, hatte er sich manchmal aus unerfindlichem Grund gedacht. Einmal hatte er es ihr gesagt - es war ihm einfach so herausgerutscht, und er hatte schon befürchtet, daß sie böse auf ihn wäre, aber sie hatte überhaupt nicht darauf geantwortet. Da hatte er angenommen, daß sie sich insgeheim darüber gefreut hatte...
Diesmal weckte ihn der sanfte, nicht aufhörenwollende Druck in seinem Darm auf. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht aus dem Gehrhythmus zu kommen, bis das zerrende Gefühl vorbei war. Die Leuchtziffern auf seiner Uhr zeigten an, daß es beinahe eins war.
Oh, bitte, lieber Gott, laß mich nicht vor all diesen Leuten kacken müssen. Bitte,
Weitere Kostenlose Bücher