Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
Kollege – und das auch noch in dreihundert Kilometern Entfernung? Wieder spürte Julia den dicken Kloß in ihrem Hals und starrte noch Minuten nach dem Telefonat mit Tränen in den Augen ins Leere. Bloß raus hier, dachte sie endlich, als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
Zwanzig Minuten später saß die Kommissarin in Bergers Büro und beobachtete den Monitor ihres PCs während des Startvorgangs. Sie rief E-Mails ab, schaltete die Rufweiterleitung aus und überlegte, wer von den Kollegen sich außerdem noch im Präsidium aufhielt. Doris und Peter hatten um 17 Uhr Feierabend gemacht, Sabine Kaufmann war unterwegs. Eine Notiz informierte sie darüber, dass bislang weder aus der Gerichtsmedizin noch aus der Computerforensik neue Erkenntnisse vorlagen. Sowohl Sievers als auch Schreck hätten aber versichert, so lange Überstunden zu machen, bis sich etwas Brauchbares ergeben würde. Die Notiz trug Kullmers Handschrift, er hatte den letzten Satz mit einem Smiley versehen, wohl in der Gewissheit, dass auch Julia eine Zusatzschicht einlegen würde. Darunter hatte er außerdem vermerkt: P. S.: Ruf an, wenn du mich brauchst!
Doch Julia hatte etwas anderes im Sinn. Sie wählte die Nummer der Rechtsmedizin, wie immer in der Hoffnung, dass Andrea direkt ans Telefon ging. Sosehr die Kommissarin gelegentlich die intellektuellen Schlagabtausche mit dem kauzigen Professor Bock schätzte – zumal sie ihm mittlerweile recht gut Paroli bieten konnte –, heute wünschte sie sich so wenige Widerstände wie möglich.
»Sievers?«
»Grüß dich Andrea, hier Julia.«
»Ah, da bist du ja. Ich wollte dich schon als vermisst melden«, stichelte Andrea. »Sonst lässt du mich doch auch keine drei Handgriffe tun, ohne mir hinterherzutelefonieren.«
»Nicht ohne Grund«, erwiderte Julia. »Du weißt genau, dass die ersten vierundzwanzig Stunden die wichtigsten sind.«
»Da sind wir aber schon ein ganzes Stück drüber«, entgegnete die Gerichtsmedizinerin. »Die Kleine ist seit Dienstagnacht tot, bei einer genauen Uhrzeit tu ich mir aber schwer, schätzungsweise war es zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen. Die Verwesung ist wegen der Zerstückelung halt schon ganz gut im Gang, dazu kommen die sommerlichen Temperaturen. Wenn’s dir also reicht, dann sage ich Mittwoch früh, zwei Uhr, plus minus zweieinhalb Stunden.«
»Reicht mir dicke«, seufzte Julia. »Unser Verdächtiger ist ohnehin flüchtig, da ist die Festlegung einer präzisen Tatzeit zweitrangig. Mich interessieren noch mal die genaue Todesursache und der Tathergang, wenn möglich.«
»Hypothetisch kannst du das alles haben. Lückenlos beweisen kann ich es aber noch nicht, dafür fehlen mir DNA-Ergebnisse und diverse Spuren. Aber vielleicht eines vorab: Die Kleine wurde sediert, sogenannte K.o.-Tropfen, wahrscheinlich in ein Getränk gemischt. Ansonsten keine Hinweise auf Drogen. Todesursache war nicht der Schlag mit dem Brecheisen, dieser führte nur zu einer tiefen Bewusstlosigkeit. Ich gehe davon aus, dass sie verblutet ist, als der Täter sie zersägte. Möglicherweise ging dem ein Schnitt in die Halsschlagader voraus, das ist nach dem Abtrennen des Kopfes nicht mehr zu erkennen. Aber die Blutmenge auf dem Laken spricht dafür.«
»Betäubt, vergewaltigt, Halsschlagader«, wiederholte Julia abgehackt. Das alles kam ihr so überaus bekannt vor.
»Ja, das trifft den Nagel auf den Kopf«, bestätigte Andrea. »Damit muss ich meinen Kommentar bezüglich Jeffrey Dahmer revidieren, da habe ich euch wohl versehentlich einen Floh ins Ohr gesetzt. Peter Kullmer hat das vorhin am Telefon nämlich schon erwähnt, den Zahn musste ich ihm dann aber leider gleich ziehen.«
»Okay, also kein Nachahmungstäter«, sagte Julia zerknirscht.
»Nein, das habe ich nicht gesagt«, gab Andrea zurück. »Das Schema passt nur nicht auf Dahmer. Brünette Frauen, sediert und missbraucht, den Schädel eingeschlagen, anschließend in Stücke zerteilt und entsorgt … Na, klingelt’s? Das spiegelt doch eins zu eins den guten alten Ted Bundy wider.«
Julia dachte für einen Moment angestrengt nach.
Theodore Bundy, ein studierter junger Mann, redegewandt und attraktiv, hatte in den USA vierzig oder sogar fünfzig Frauen ermordet. Die Medien hatten ihn als »Mr. Nice Guy« dargestellt, doch sein Vorgehen war alles andere als nett gewesen. Seine Zielgruppe – junge, dunkelhaarige Frauen – hatte Bundy meist einvernehmlich zu sich locken können, erst dann
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