Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
einen dicken, grünweißen Wälzer aus dem Regal zu ziehen. Sie kehrte zurück mit dem ICD-10, einem etwa neunhundert Seiten dicken Nachschlagewerk zur Klassifikation von Krankheiten. Julia Durant kannte das Buch natürlich, viel zu oft hatte sie schon erlebt, dass Ärzte sich hinter ominösen Codes versteckten, etwa J20.9, was nichts anderes bedeutete als Bronchitis. Alina hatte kurz geblättert und dann das fünfte Kapitel aufgeschlagen, dessen Überschrift lautete:
PSYCHISCHE UND VERHALTENSSTÖRUNGEN
Alina hatte das aufgeschlagene Buch zu Julia geschoben mit den Worten: »Hier, lies mal, was bei F41 steht.«
Julia Durant, die es sich ohne Schuhe auf der Couch bequem gemacht hatte, hob das schwere Buch zu sich herüber und legte es auf die angewinkelten Oberschenkel. Sie versuchte, unvoreingenommen zu sein, immerhin war es Alina Cornelius, ihre Freundin, und nicht irgendein Quacksalber, der auch noch in drei Jahren an ihr verdienen wollte. Sie überflog den kurzen Absatz rasch, dann jedoch las sie bestimmte Textbausteine noch einmal, mit zunehmender Aufmerksamkeit. Es war von Panik die Rede, wiederkehrend und in nicht vorhersehbaren Situationen. »Zu den wesentlichen Symptomen«, so stand es dort schwarz auf weiß geschrieben, zählten »plötzlich auftretendes Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungsgefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle«. Außerdem könne die Furcht zu sterben hinzukommen oder die Angst, wahnsinnig zu werden.
»Herrje«, hatte sie ganz leise gesagt, als die das Buch zufallen ließ und es zurück auf den Tisch beförderte.
»Wenn ich einmal deine Reaktion interpretieren darf«, hörte sie Alina hinter sich sagen, »dann hast du in dem Absatz etwas wiedererkannt, richtig?«
»Äh, ja«, stammelte Julia, »einiges sogar, denke ich zumindest.«
In Wirklichkeit fühlte sie sich sogar, als hätte der Autor beim Verfassen dieser Symptome in sie hineingeschaut.
»Das ist doch ein guter Anfang«, lächelte Alina und nahm wieder zu Julias Füßen Platz.
»Wofür?«
»Weißt du, Julia, für fast alles gibt es eine Lösung. Man muss nur zuerst das Problem erkennen. Gegen die Angst kann man was machen, kein Thema, aber dazu müssen wir erst einmal deine Angststörung individuell kennenlernen.«
Angststörung. Panikattacken. Julia seufzte. Unbekannt waren ihr diese Begriffe beileibe nicht, Madame Sutter hatte sie bereits heraufbeschworen, doch sie hatte nichts davon hören wollen.
»Mensch, Alina, kann das nicht einfach noch eine Nachwirkung des Schocks sein oder so?« Sie musste das jetzt ganz genau wissen, denn das, was sie gelesen hatte, verunsicherte sie zutiefst. Eine Julia Durant hatte es bisher nicht zugelassen, dass eine andere Kraft außer ihr selbst die Kontrolle übernahm. »Ich meine«, fuhr sie fort, »diese ganze Geschichte mit den Panikattacken und Bedrängungsängsten ist größtenteils eine Farce, oder? So wie Burn-out und der ganze Kram. Das ist doch für Beamte mit Mitte, Ende vierzig das Ticket in die Frühpension, mehr nicht.«
»Und selbst wenn es so wäre«, entgegnete Alina sanft, »was es jedoch nicht ist – du gehörst ja auch in diese Zielgruppe, nicht wahr?«
Irritiert zog Julia die Augenbrauen zusammen. »Danke auch.« Sie pustete abfällig durch die Lippen.
Alina blieb ganz ruhig: »Was ich sagen möchte, ist, dass es viele Gründe gibt, die zu einer durch Stress indizierten Erkrankung führen können. Die Häufung in der Altersgruppe über vierzig mag damit zusammenhängen, dass man ein gewisses Pensum an ausbrennenden Berufsjahren wegstecken kann. Der eine mehr, der andere weniger. Doch was dir, nein, was uns beiden widerfahren ist, das geht nicht einfach so an einem vorüber.«
Alina machte eine kurze Pause, in der Julia sich fragte, ob Alina es bereute, sich selbst in einem Atemzug mit Julia genannt zu haben. Natürlich hatte Alina die Entführung erlebt, und es musste auch für sie einem Alptraum gleich gewesen sein. Aber gewisse Dinge waren ihr erspart geblieben, schlimme Dinge, die Julia niemals würde vergessen können. Doch sie verurteilte Alina nicht dafür, im Gegenteil, wusste sie doch, dass Holzer Alina nur entführt hatte, um sie selbst zu quälen. Hätte er sie auch noch vergewaltigt, so müsste Julia nun mit zusätzlicher Schuld leben. Wer weiß, vielleicht hätte er ja, wenn Hellmer und Kaufmann ihn nicht rechtzeitig gestoppt hätten …
Doch Alina hatte längst wieder das Wort ergriffen. »Jeder vierte bis fünfte Bundesbürger erleidet
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