Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
gesehen hatte, schwieg sie einen Moment. Eine winzige Pause nur; sie hatte die Brandnarbe in meinem Gesicht gesehen und versuchte es zu überspielen. Lange genug, um mich daran zu erinnern, dass ich mich von der Masse abhob.
Ein paar Leute hatten mir geraten, mich über die Möglichkeiten einer kosmetischen Operation zu informieren, aber ich hatte es nie gemacht. Wahrscheinlich wollte ich tief im Inneren anders sein, gegen den Strom schwimmen.
Endlich sagte die junge Frau »guten Tag« und lächelte.
»Hallo, ich heiße Ísrún.«
»Ja, genau, die Journalistin, nicht wahr?«
Die Frau spähte über meine Schulter.
»Haben Sie keinen Kameramann dabei?«
»Äh … nein, ich komme nicht beruflich. Ich schreibe einen Artikel über meine Großmutter. Sie hat hier mal gewohnt«, erklärte ich.
»In diesem Haus?«
»Ja. Dürfte ich mal reinschauen?«
Sie bat mich ins Haus. Schwer, es jemandem zu verweigern, der einst regelmäßig zu Gast gewesen war.
Ich versuchte, den Besuch auszukosten, Erinnerungen strömten auf mich ein, obwohl die neuen Eigentümer einiges verändert hatten, das meiste natürlich zum Besseren: Eine neue Kücheneinrichtung, ein renoviertes Badezimmer. Doch der Charme war auf gewisse Weise verschwunden; das war nicht mehr Großvaters gutes altes Haus.
Ich hätte natürlich gerne dort übernachtet, wenn es möglich gewesen wäre. Stattdessen hatte ich schon vereinbart, bei meiner Tante zu wohnen, die in der Nähe einen Bauernhof und immer ein freies Zimmer für Verwandtschaft hatte.
Dort wollte ich ausschlafen, mich entspannen und den Artikel schreiben. Außerdem hatte ich mich mit zwei Frauen verabredet, die Oma Ísbjörg gut gekannt hatten. Sie freuten sich darauf, über alte Zeiten zu reden.
Ich war schon sehr gespannt.
10 . Kapitel
Svavar Sindrason saß in dem alten Baststuhl am Fenster und schaute hinaus. Hier hatte er schon oft gesessen und das Wetter verfolgt. Der Blick war zwar nichts Besonderes, er sah vor allem die Wand des Nachbarhauses, aber das spielte keine Rolle. Er sah zum Himmel.
Ab und zu ging er zur Messe, wohl mehr aus Pflichtbewusstsein denn aus Frömmigkeit, hatte aber doch seinen Glauben. Er glaubte an höhere Mächte, suchte jedoch selten Rat bei Gott. Er rechnete nicht mit einer Antwort.
Svavar war in den Vierzigern. Es war nicht sein Plan gewesen, mit vierzig immer noch in Dalvík zu wohnen, in dem alten Haus. Er brauchte Geld und wollte ins Ausland ziehen. In Dalvík war er geboren und hatte dort sein ganzes Leben verbracht, allerdings mit Unterbrechungen. Eine Zeitlang hatte er in Reykjavík gearbeitet und dort zur Miete gewohnt, besaß jedoch das inzwischen schuldenfreie Haus in Dalvík, seit seine Eltern gestorben waren. Er fühlte sich wohl im Ort, hatte aber immer von einer kleinen Wohnung in Südeuropa geträumt, am besten am Meer, wo er relaxen, die Sonne und kühle Drinks genießen konnte. Man musste einiges auf sich nehmen, um seine Träume wahr werden zu lassen.
Svavar hatte die Nachrichten verfolgt.
Nun saß er am Fenster und dachte an die Allmacht Gottes.
Ungewöhnlicherweise war er ziemlich ratlos.
Fragen über Leben und Tod quälten ihn.
Über sein eigenes Leben, den Tod eines anderen Menschen.
Wie weit konnte er gehen, um seine eigene Haut zu retten?
Er besaß nur ein Leben und wollte es leben – und zwar nicht hinter Schloss und Riegel.
Zudem musste er sich vielleicht eher vor dem Tod fürchten als vor dem Gefängnis, wenn er zur Polizei ging.
Es war schwer, die Folgen abzusehen.
Svavar war sich jedoch ziemlich sicher, was geschähe, wenn er
keinen
Kontakt mit der Polizei aufnähme.
Er hatte schon oft die Redewendung benutzt, etwas sei eine Frage von Leben und Tod.
Doch im Grunde wurde ihm erst jetzt deren wirkliche Bedeutung bewusst.
Er starrte weiter aus dem Fenster in der Hoffnung auf eine Antwort.
11 . Kapitel
Die Kaffeestube auf der Polizeiwache von Siglufjörður war ein beliebter Treffpunkt, wenn gerade interessante Fälle untersucht wurden. Der erste Gast des Tages, Kapitän îmar, kam kurz nachdem bekannt geworden war, dass der Tote beim Héðinsfjörður-Tunnel gearbeitet und in Siglufjörður gewohnt hatte. îmar war Stammgast auf der Wache – allerdings immer freiwillig. Niemand wusste genau, welches Schiff er geführt hatte, aber der Spitzname war an ihm haften geblieben. So ähnlich wie »Pfarrer« an Ari, der nie eine Gemeinde gehabt hatte. îmar war Rentner, suchte Gesellschaft und schaute gerne auf einen
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