Todesnähe
konnte, dann kehrten sie ins Wohnzimmer zurück und setzten sich vor den Kamin. Jedes Mal, wenn wieder etwas Eisregen an die Fensterscheibe prasselte, bildete sich eine weitere Falte auf Ginos Stirn. Er dachte bereits mit Schrecken an den Rückflug um zehn.
Der Chief hatte es sich in einem Ledersessel bequem gemacht und die Hände über dem gutgefüllten Bauch gefaltet. «Jetzt erzählen Sie uns doch mal, warum Sie wirklich hier sind. Flüge sind nicht billig, und dieser überstürzte Besuch, nur um Joeys Rechner zu holen, sagt mir, dass da noch mehr im Busch sein muss.»
Nach kurzem Schweigen sagte Magozzi: «Da ist tatsächlich mehr im Busch.»
Der Chief nickte. «Freut mich, dass Sie ehrlich mit uns sind.»
«Das muss aber wirklich unter uns bleiben. Es betrifft nicht nur die Mordermittlungen, auch das FBI hängt mit drin, wenn wir hier aus dem Nähkästchen plaudern.»
Claude schwenkte sein Glas, brachte die beiden Eiswürfel, die in einer beträchtlichen Menge Whiskey badeten, in Bewegung und lächelte leicht. «Der Chief und ich, wir waren beide auf Sondereinsatz in Vietnam. Bei der sogenannten Putztruppe. Wir haben gelernt, die Klappe zu halten. Also erzählen Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist.»
Unter einer «Putztruppe» konnte Magozzi sich nichts vorstellen, und er fand es auch klüger, nicht nachzufragen. Ansonsten wusste er nicht so recht, wo er anfangen sollte, aber zum Glück gab es ja Gino und sein großes Mundwerk – er kam Magozzi zu Hilfe und erzählte den beiden, dass Joe nicht einfach nur die beiden Männer erschossen hatte, die ihn getötet hatten, sondern tags zuvor auch noch kaltblütig zwei weitere Somalier.
Den älteren Männern blieb der Mund offen stehen, und die Fassungslosigkeit, die sich auf ihre Mienen malte, war echt – ein solch tiefes Entsetzen konnte man nicht einfach überstreifen wie eine Maske.
«Also erstens», sagte Claude schließlich leise, «erstens hätte Joey so was niemals getan. Und zweitens hätte er es auch gar nicht tun können. Er war so schwach, dass er es kaum vom Wagen in die Jagdhütte geschafft hat.»
Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel Gino gar nicht. Er mochte diese Männer. Er hatte großen Respekt vor den Opfern, die sie im Dienst ihres Landes gebracht hatten. Aber so war das nun mal bei Mordermittlungen. Manchmal musste man persönliche Gefühle beiseitelassen und mögliche Zeugen auch noch über den Punkt hinaus führen, an dem man selbst fand, dass es genug war. «Beim ersten Mal hat er einen Schalldämpfer benutzt. Er hatte die gezielte Absicht zu töten. Er hatte diese Männer im Visier. Und daraus ergibt sich wohl, dass er auch die Männer, die er in der Nacht, als er starb, erschossen hat, im Visier gehabt haben muss. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sich alle vier als gefährliche Terroristen entpuppt haben, die in einen grauenvollen Anschlagsplan verwickelt waren. In genau vier Tagen sollen diverse Städte im ganzen Land getroffen werden. Das FBI wusste nichts von dem Plan und hat erst durch die Beweise aus unseren Mordermittlungen davon erfahren.»
Kurz zuvor hatten der Chief und Claude noch gemütlich in ihren Sesseln gelegen, doch jetzt saßen sie beide kerzengerade da, zwei stolze Männer, die die Schläge ertrugen, weil sie wussten, dass sie nichts dagegen ausrichten konnten. «Sind Sie ganz sicher?», fragte Claude tonlos.
«So sicher, wie man nur sein kann.»
Der Chief sah aus wie ein Baum kurz vor dem Fall. Er hielt sich mit beiden Händen an den Armlehnen fest.
Claude warf seinem Freund einen raschen Blick zu, dann schenkte er mit zitternder Hand noch eine Runde Whiskey aus. «Wie können wir Ihnen helfen?»
Magozzi blickte in sein Glas. «Falls Joe erfahren hätte, dass jemand einen Terroranschlag plant, hätte er dann möglicherweise solchen Informationen gemäß gehandelt? War er ein Mensch, der zu so einem Mord fähig gewesen wäre?»
Der Chief sah ihn an. «Um sein Land zu retten? Und ob. Dazu war er ja schließlich ausgebildet.»
«Aber er hat Ihnen nie von seinen Plänen erzählt?»
Jetzt musste der Chief doch wieder lächeln. «Das ist eine ganz schön gepfefferte Frage unter Polizeikollegen, Detective. Aber die Antwort ist: nein. Sonst wäre der Junge wohl kaum allein im Ghetto herumgelaufen und hätte den Helden gespielt. Wir hätten ihn davon abgehalten.» Er warf einen besorgten Blick zum Fenster. Das Prasseln des Eisregens war stärker geworden, und inzwischen heulte auch noch der Wind dazu.
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