Todesnetz: Tannenbergs zwölfter Fall (German Edition)
in der
Beethovenstraße auf glühenden Kohlen den Postboten abwarten statt den Brief direkt
in der Hauptpost in Empfang zu nehmen, wenn er vom Briefverteilzentrum in Ludwigshafen
in der Barbarossastadt eintraf?
Tannenberg
war von der Eingebung seines Freundes begeistert. Er schnappte sich seine Lederjacke,
warf Petra Flockerzie ein Handküsschen zu und verabschiedete sich zu einem wichtigen
Dienstgang.
Der für
das Musikerviertel zuständige Briefträger hieß Werner Kollmenter und wohnte nur
einen Steinwurf von Heiners Haus entfernt in der Parkstraße. Auf dem Weg vom Pfaffplatz
zum Musikerviertel versank Tannenberg so tief in der Welt seiner Gedanken, dass
er beim Überqueren der Pirmasenser Straße fast vor ein Auto gelaufen wäre.
Immer wieder
tauchte vor seinem geistigen Auge dieses blutende Spinnennetz auf, das der Entführer
seinem Opfer in die Haut eingeritzt hatte.
Was muss
das nur für ein abartiger Mensch sein, der einem anderen Menschen so etwas antut?
überlegte er. Kann man solch einen perversen Kretin überhaupt noch als Menschen
bezeichnen? Das ist doch ein Tier.
Wütend kickte
Tannenberg eine Plastikflasche in den Rinnstein.
Nein, das
stimmt nicht, denn kein Raubtier ist solch ein Raubtier wie der Mensch.
Er blieb
stehen, zog die Stirn in Falten und wiederholte in Gedanken seinen letzten Satz.
Den muss
ich mir unbedingt merken, entschied er. Ist fast so gut wie Thomas Hobbes ›homo
homini lupus‹. Obwohl dieser alte Philosophenspruch ja eigentlich eine Verunglimpfung
meines Vornamens darstellt: ›Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.‹
Amüsiert
schüttelte er den Kopf und ging weiter.
In dem Teil
der Parkstraße, in dem Werner Kollmenter seit seiner Geburt wohnte, waren die Einfamilienhäuser
Wand an Wand gebaut. Von seinem Vater wusste Tannenberg, dass der Briefträger seit
etwa einem Jahr allein in seinem Elternhaus lebte.
Im letzten
Winter hatte Kollmenters Mutter ihre Schwester im Allgäu besucht. Während dieser
Zeit war plötzlich deren Ehemann verstorben, und die alte Frau Kollmenter war dauerhaft
bei ihrer Schwester geblieben.
Im Musikerviertel
war es ein offenes Geheimnis, dass sich Mutter und Sohn Kollmenter nicht sonderlich
gut verstanden. Der Postbote selbst machte keinen Hehl daraus, dass er seiner launischen,
herrischen Mutter keine Träne nachweinte.
Werner Kollmenter
war ein stiller und höflicher Nachbar, mit dem es nie irgendwelche Probleme gab.
Die Briefzustellung erledigte er stets pünktlich, korrekt und freundlich, allerdings
blieb er dabei auf Distanz zu seinen Mitmenschen. Tannenberg konnte sich nicht daran
erinnern, jemals mehr als einen belanglosen Satz mit dem Eigenbrötler gewechselt
zu haben.
Obwohl es
noch gar nicht richtig dunkel war, hatte Werner Kollmenter zur Parkstraße hin bereits
die Rollläden heruntergelassen. Doch hinter der teilverglasten Haustür brannte Licht,
folglich war der Briefträger höchstwahrscheinlich zu Hause. Tannenberg läutete und
wartete geduldig. Als niemand reagierte, läutete er Sturm.
»Komm ja
schon«, hörte er ein barsches menschliches Knurren. Kurz darauf öffnete sich die
Holztür und ein frischgeduschter Mann mit nassen Haaren füllte den Türrahmen fast
komplett aus. Kollmenter war mit einem dunkelblauen Bademantel und Sportsandalen
bekleidet. Über seiner rechten Schulter hing ein Frotteehandtuch.
»Tut mir
leid, Werner, wenn ich dich unter der Dusche herausgeholt habe«, entschuldigte sich
Tannenberg. Wie die allermeisten der alteingesessenen Bewohner des Musikerviertels
war auch er seit Urzeiten mit dem Postboten per Du.
»Schon gut.«
»Ich hab
auch nur eine kurze Frage an dich, die du mir sicher ganz schnell beantworten kannst.«
Tannenberg stellte seinen linken Fuß auf die zweite Treppenstufe. »Und zwar in deiner
Eigenschaft als Postbeamter.«
»Gut, dann
stell sie mir am besten sofort. Ich bin nämlich auf dem Sprung«, erklärte Kollmenter
mit einer fahrigen Handbewegung. Sein Gesicht leuchtete auf. »In einer Stunde beginnt
in der Fruchthalle Rüdiger Nehbergs Vortrag über seine letzte Expedition in den
Amazonas-Urwald, auf den ich mich schon seit Langem sehr, sehr freue.«
»Ist das
nicht dieser Abenteurer, der auf Fotos meistens eine Schlange um den Hals oder eine
Vogelspinne auf der Glatze …?«
»Oder einen
Skorpion zwischen den Zähnen hat«, schnitt ihm der Briefträger das Wort ab. »Doch,
genau der ist das«, bestätigte er und rubbelte sich mit dem Frotteehandtuch die
Haare trocken.
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