Todesopfer
abzeichneten. Farben existierten überhaupt nicht.
Und dann entrollte ein groÃer Tuchhändler im Himmel einen riesigen Ballen feinster grüner Seide. Sie schwebte mehrere Kilometer hoch in der Luft, erstreckte sich so weit das Auge reichte, veränderte sich ständig und verströmte ein ganz eigenes Licht. Um sie herum wurde der Himmel schwärzer. Bäume und Felsformationen
traten scharf konturiert hervor, als der Tuchmacher seinen Stoff schüttelte, als das seidene Firmament wogte und Schattierungen von blassem Grün vor uns tanzten.
Die Pferde blieben wie angewurzelt stehen.
»O mein Gott«, flüsterte Helen. »Was ist das?«
Im Nordwesten vollzog sich eine lautlose Farbenexplosion, als hätte der Himmel ein Fenster aufgestoÃen und den staunenden Sterblichen hier unten einen Blick auf die Schätze dahinter gewährt. Kaskaden von silbrigem Grün, tiefem Violett und wärmstem, sanftestem Rosa, ergossen sich auf die Erde. Es war die Farbe der Liebe, die Farbe von Mädchenträumen, die Farbe einer glücklichen Zukunft, die ich wahrscheinlich niemals erleben würde.
Und so wurden wir in die Reihen der wenigen Auserwählten aufgenommen, denen es dank eines glücklichen Zusammentreffens von zeitlosen geographischen und atmosphärischen Gegebenheiten vergönnt war, die Aurora Borealis zu erblicken.
»Nordlichter«, sagte ich.
Schweigen.
»Wow!«, stieà Helen hervor.
»Kann man wohl sagen«, pflichtete ich ihr bei.
Wieder Schweigen.
»Wie?«, fragte sie. »Wie kommt das zustande?«
Ich holte tief Atem und war im Begriff, eine langatmige und trockene Erklärung über aufgeladene Sonnenpartikel, die mit Sauerstoff- und Stickstoffmolekülen kollidierten, vom Stapel zu lassen, als ich mich eines Besseren besann.
»Die Inuit nennen sie Geschenke von den Toten«, sagte ich. Und dann, verblüfft über meinen eigenen Wagemut, ganz zu schweigen von den sentimentalen Abgründen, in die mein normalerweise zynisches Naturell tauchen konnte, fügte ich hinzu: »Ich glaube, Dana hat sie geschickt.«
Helen und ich verfolgten noch eine Weile das Schauspiel, bis die Lichter verblassten. Dadurch hatten wir zwar noch mehr Zeit verloren, dafür aber an Kraft gewonnen.
»Danke«, flüsterte Helen, und ich wusste, dass sie nicht mit mir sprach.
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Kurz vor halb vier erreichten wir den Stall meiner Freundin in Voe. Der Stalltrakt war leer, doch ich konnte ihre beiden Pferde sehen, die von einer nahe gelegenen Weide zu uns herüberschauten. Ich stieg ab und betastete Charlesâ verletztes Bein. Es hatte die Belastung ausgehalten, doch er würde ein paar Ruhetage brauchen. Ich fand zwei Eimer und gab beiden Pferden reichlich zu trinken und einen Armvoll Heu. Danach sattelte ich sie ab, brachte sie auf die Weide und trug Sättel und Trensen in die Sattelkammer. Der Schlüssel lag dort, wo ich ihn zu finden erwartet hatte, unter einem tönernen Blumentopf.
Die Sattelkammer meiner Freundin diente nebenbei als Büro und besaà einen Telefonanschluss. Ich zeigte Helen die Buchse, machte die Tür hinter uns zu und hielt schnurstracks auf die Schreibtischschublade zu. Das Glück war mir hold: eine halbvolle Packung Kekse, eine fast volle Schachtel Schokodrops und drei Rollen Pfefferminzbonbons. Ich teilte die Beute auf, und wir verschlangen sie mit HeiÃhunger. Dann schlossen wir Danas Laptop an.
31
An dem kleinen Schreibtisch meiner Freundin war nur Platz für einen, also nahm Helen auf dem Stuhl davor Platz, während ich mich auf einem Strohballen setzte und den Kopf an die Wand der Sattelkammer lehnte. Meines Erachtens war ich noch nie bequemer gesessen, befürchtete jedoch, binnen Sekunden einzuschlafen, wenn ich meine Augen nicht offen hielt. Also zog ich Danas Ausgabe von Die Frau in Weià a us der Satteltasche. Dabei fielen mehrere zusammengefaltete DIN-A4-Blätter aus dem Buch.
Am Schreibtisch hörte Helen auf zu tippen, hustete und spuckte dann etwas in die Hand. Sie bemerkte, dass ich sie beobachtete.
»Die verdammten Schokodrops sind voller Haare«, knurrte sie, ehe sie sich wieder ans Tippen machte.
»Hundehaare, wenn man Glück hat, Pferdehaare für Pechvögel«, murmelte ich.
»Bitte?«, fragte sie, während ihre Finger noch immer auf die Tasten hämmerten.
»Das hat mein Dad immer beim Essen gesagt«, erklärte ich. »Ich bin auf einem
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