Todesregen
Grund hätten sie dann, sich unseren Schüssen auszusetzen, selbst wenn unsere Waffen nach ihrem Maßstab wahrscheinlich ziemlich primitiv sind?«
»Offenbar sind manche von diesen gottlosen Bastarden schon in den Großstädten aufgetaucht«, sagte eine schielende, gut sechzigjährige Frau mit sonnengegerbter Haut im Hinblick auf die Nachrichtensendungen. »Irgendwann werden sie auch hierherkommen.«
»Aber noch hat keiner von uns tatsächlich einen gesehen«, sagte Tucker. »Womöglich sind diese Dinger, von denen im Radio die Rede war, bloß Aufklärungsmaschinen, Drohnen, Roboter.«
Als Nächster meldete sich Vince Hoyt, Geschichtslehrer an der regionalen Highschool und Trainer von deren Footballteam. Mit seinen imposanten, scharf geschnittenen Gesichtszügen erinnerte er an die Marmorbüsten jener alten Römer, die einen eisernen Willen besessen hatten. Seine Kiefer sahen aus, als könnten sie Walnüsse knacken, und seine raue Stimme klang, als hätte er die zermalmten Nussschalen geschluckt.
»Die große Frage ist, was geschieht, wenn dieser Regen nicht aufhört, sondern eine Woche, zwei Wochen, einen Monat weitergeht? So einer Sintflut werden unsere Häuser nicht standhalten. Bei mir zu Hause gibt’s schon mehrere undichte Stellen, ziemlich große Schäden, und solange es so schüttet, falle ich vom Dach, wenn ich versuche, es zu reparieren. Vielleicht glauben sie, sie können unseren Willen zum Widerstand einfach ersäufen, unsere Kampfkraft wegspülen.«
»Wenn sie Regen machen können, warum nicht auch Wind?«, meinte ein junger Mann mit blonden Locken, einem Goldring im linken Ohr und einem rot eintätowierten weiblichen Kussmund am Hals. »Tornados, Hurrikane … «
»Gezielter Blitzschlag«, warf die sonnengegerbte Frau ein. »Wäre so was wohl möglich? Könnten sie das tun?«
Molly dachte an die gewaltigen, offenkundig künstlich erzeugten Wasserhosen im Pazifik, die pro Minute mehrere
Hunderttausend Liter Wasser aus dem Meer gesaugt hatten. Angesichts dessen klang die Vorstellung gezielter Blitzschläge durchaus nicht mehr so weit hergeholt wie gestern noch.
»Vielleicht sogar Erdbeben«, sagte Vince Hoyt. »Also, bevor so was geschieht, müssen wir uns für einen Stützpunkt entscheiden, wo wir zusammentragen können, was wir brauchen: ein Waffenarsenal, Nahrungsmittel, Medikamente, Verbandszeug … «
»In unserem Supermarkt gibt es genügend Nahrungsmittel«, sagte Norman Ling, »aber der liegt zu nah am See. Wenn es so weiterregnet, steht er in vierundzwanzig Stunden unter Wasser. «
Tucker Madison brachte seine militärische Erfahrung ins Spiel. »Außerdem«, sagte er, »ist der Supermarkt wegen seiner großen Schaufenster kein Gebäude, das man verteidigen könnte. Und, so ungern ich das sage, wir müssen uns nicht nur wegen der Außerirdischen Sorgen machen. Mit dem Zusammenbruch der Kommunikation ist auch die staatliche Autorität bedroht. Vielleicht ist sie auch schon dahin. Jedenfalls hab ich es nicht geschafft, mit dem Büro des Sheriffs Verbindung aufzunehmen. Keine Polizei. Vielleicht auch keine Nationalgarde und keine funktionierende Kommandostruktur, um das Militär richtig einzusetzen … «
»Chaos, Anarchie«, flüsterte Lee Ling.
So ruhig, wie man überhaupt über diesen erschreckenden Aspekt der zusammenbrechenden Zivilisation sprechen konnte, sagte Tucker: »Glaubt mir, es gibt ’ne Menge üble Typen, die sich das Chaos zunutze machen werden. Ich meine nicht bloß Leute von außerhalb. Hier im Ort haben wir selbst genügend Rowdys und Strolche, Diebe, Vergewaltiger und Gewaltfreaks, für die eine Anarchie das reine Paradies ist. Sie werden sich nehmen, was sie haben wollen, werden mit anderen tun, was sie wollen, und je
mehr sie sich ihren kranken Fantasien hingeben, desto irrer und brutaler werden sie werden. Wenn wir auf die nicht gefasst sind, werden sie uns und unsere Familien umbringen, bevor wir irgendeinem von diesen Dingern vom anderen Ende der Milchstraße begegnet sind.«
Ein ernstes Schweigen fiel über die Gruppe, und Lee Ling sah aus, als wünschte sie wieder den herabstürzenden Mond herbei.
Molly dachte an Render, den Mörder von fünf Kindern und Vater von einem, den sie zuletzt auf der Landstraße nach Norden hatte gehen sehen.
Gewiss war er nicht das einzige Ungeheuer, das in dieser Nacht aus der Gefangenschaft entkommen war. Als das Personal von Gefängnissen und geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie seinen Posten verließ, da hatte es
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