Todesregen
Nacht und den Göttern des Sturms entgegen.
Bleich vor Furcht und mit vor Wut erstarrter Miene, wischte Tewkes die herausgerissene Vinylzunge und die beiden Glasaugen vom Tresen in einen Abfalleimer.
Als der Wirt nach der Puppe greifen wollte, schrie jemand: »Russ, da, hinter dir!«
An Tewkes’ Reaktion zeigte sich, dass seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er fuhr mit einer Geschwindigkeit herum, die die scheinbare Schwerfälligkeit seines gedrungenen Körpers Lügen strafte, und ballte die Hände zu Fäusten, um sich im klassischen Kneipenstil gegen jede nur mögliche Bedrohung zu verteidigen.
Zuerst sah Molly nicht, was den Warnruf ausgelöst hatte.
Dann verkündete Tewkes: »Das bin ich nicht, verflucht noch mal, das bin ich nicht!«
Hinter dem Tresen hing ein breiter Spiegel an der Wand. Tewkes starrte auf sein Ebenbild, dessen rechte Gesichtshälfte zerschmettert war.
Trotz seiner Worte schien er von dem, was der Spiegel zeigte, doch halb überzeugt zu sein, denn er griff sich mit der Hand ans Gesicht, um sich zu vergewissern, dass ihm keine Katastrophe widerfahren war. Im Spiegel sah die Hand krumm und verstümmelt aus.
Erschrocken rangen nun auch andere nach Luft. Schwache Entsetzensschreie stiegen auf, als man merkte, dass
Tewkes nicht der Einzige war, dessen Spiegelbild sich als Vorahnung eines tödlichen Schicksals darstellte. Man sah die Freunde, man sah die Nachbarn, man suchte nach sich selbst – und wo man auch hinschaute, jeder war eine Leiche, ein Opfer extremer Gewalt.
Aus Tucker Madisons Gesicht war der Unterkiefer herausgerissen. Die Oberzähne des Deputys bissen in die Luft.
Dem edlen römischen Schädel von Vince Hoyt fehlte der Deckel, und das Phantom im Spiegel zeigte auf den echten Vince mit einem Arm, der unterhalb des Ellbogens nur noch aus nackten Knochen bestand.
Neben ihm stand eine runzlige, verbrannte Masse, die einmal ein Mensch gewesen war. Rauch stieg von ihr auf. Sie grinste, aber nicht humorvoll oder bedrohlich, sondern weil die Lippen verschmort waren, sodass das Gebiss entblößt war wie auf einer Schautafel beim Zahnarzt.
Molly wusste, dass es nicht ratsam war, auf diesem grausigen Wandbild nach sich selbst zu suchen. Wenn sich dort ein Blick auf ein unentrinnbares Schicksal bot, dann blieb nichts als Verzweiflung. Aber selbst wenn es eine Lüge war, würde das Bild ihres vom Tod verwüsteten Gesichts und Körpers sich ins Gedächtnis einbrennen und dort eitern, ihren Handlungswillen untergraben und ihren Überlebensinstinkt schwächen.
Vielleicht gehört eine morbide Neugier unweigerlich zum menschlichen Erbgut, denn wider besseres Wissen forschte sie trotzdem nach ihrem Bild.
In dem ahnungsvollen Spiegel, in jener anderen Kneipe der stehenden Toten, existierte Molly Sloan nicht. Da, wo sie hätte sein sollen, war nur Leere. Hinter dieser Leere befand sich das grässlich zerfetzte Ebenbild des Mannes, der auf dieser Seite des Spiegels hinter ihr stand.
Als sie zu einer früheren Stunde dieser Nacht im Spiegel ihres Toilettentischs in eine Zukunft geblickt hatte, in der ihr Schlafzimmer ein Dschungel aus Ranken und Moder
war, da hatte sie ihr Ebenbild gesehen, aber nicht als Leiche oder sonst wie entstellt, sondern genau so, wie sie in Wirklichkeit aussah.
Nun suchte sie voll Furcht das Bild von Neil. Als sie feststellte, dass auch er keinen Platz in dem Panorama lebender Leichen hinter dem Tresen hatte, wusste sie nicht recht, ob sie erleichtert über das gemeinsame Fehlen sein sollte oder ob es bedeutete, dass ihr Schicksal etwas Schlimmeres mit sich bringen würde als die Enthauptung, Amputation und Verstümmelung, die man bei den anderen sah.
Sie wandte den Kopf, um den leibhaftig neben ihr stehenden Neil zu betrachten. Als sich ihr Blick mit seinem kreuzte, erkannte sie, dass auch er die Abwesenheit der beiden Spiegelbilder bemerkt hatte und ebenfalls nicht wusste, was er davon halten sollte.
Das Licht erlosch. Plötzlich herrschte völlige Dunkelheit.
Diesmal war der Stromausfall zweifellos endgültig.
Auf diese Eventualität vorbereitet, knipsten acht, zehn, vielleicht gar zwanzig der versammelten Bürger Taschenlampen an. Lichtschwerter durchschnitten die Dunkelheit.
Viele der Lichtkegel fanden den Spiegel, vielleicht wegen einer kollektiven Furcht, die grotesken Zerrbilder auf der anderen Seite des Spiegelglases könnten im Schutz der Finsternis in die diesseitige Welt getreten sein. Wegen der Blendung konnte man allerdings nicht
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